Hamburg. Thomas W. hatte Todesangst, als St.-Pauli-Ultras im Paulaner's HSV-Fans attackierten. Täter nahmen keine Rücksicht auf normale Gäste.
Auch drei Tage nach dem Überfall von mutmaßlichen St.-Pauli-Ultras auf das Wirtshaus Paulaner's am Hamburger Großneumarkt mit HSV-Fans sitzt der Schock bei Thomas W. noch tief. "Ich bin erleichtert, dass nicht noch mehr passiert ist, aber innerlich bin ich extrem wütend", sagt der 54-Jährige im Gespräch mit dem Abendblatt. Die Schmerzen seines Körpers erinnern ihn auch im Alltag noch an den grausigen Vorfall am vergangenen Freitag, als Dutzende mit roten Schlauchschals Vermummte das mit einigen HSV-Fans gefüllte Lokal überfielen und in ein Trümmerfeld verwandelten.
Laut Polizeiangaben wurden bei dem gewaltsamen Angriff zwölf Menschen verletzt, darunter zwei Schwangere. Doch es waren vermutlich noch viel mehr Verletzte, da sich wegen der langen Warteschlange gar nicht alle Geschädigten bei den herbeigeeilten Sanitätern meldeten. So wie Thomas W., der eine Rückenprellung sowie mehrere blaue Flecken an seiner Hüfte und seinem Knie davontrug.
Obwohl er gar kein Anhänger der rivalisierenden Vereine in Hamburg ist, nahmen die Täter keine Rücksicht auf ihn. Gemeinsam mit seinem Cousin und dessen Frau, die gerade zu Besuch n Hamburg waren, war W. am Freitagabend seit rund 30 Minuten als neutraler Gast ohne Fußballbezug im Paulaner's, als gegen 21.10 Uhr plötzlich von außen Scheiben zertrümmert wurden. "Da sind sie!", schrie einer der Täter in Richtung der HSV-Fans.
Augenzeuge dachte an Terror und Hanau
"Die Kriminellen haben einen großen Mülleimer sowie Pflaster- und Kantsteine ins Lokal geworfen", schildert W. seine Beobachtungen. Dann hörte er einen lauten Knall. Erst vor und dann in der Gaststätte. "Ich wusste nicht, ob jemand schießt oder das Geräusch von einem Böller ausging", sagt der 54-Jährige, den die Todesangst packte. "Ich habe an Hanau gedacht. Das war Terror!"
Weil er nicht wusste, ob die Angreifer bereit sind, wie beim rassistisch motivierten Anschlag in Hanau Menschen zu töten, versteckte er sich unter einem der Tische. "Einer der Chaoten sprang von Tisch zu Tisch, um den verängstigten Gästen ihre Wertsachen zu stehlen. Mir trat er in den Rücken und nahm mir mein Portemonnaie weg", sagt W.
HSV-Fans schützen neutrale Gäste vor Ultras
Es waren beängstigende Zustände im Paulaner's. Immer wieder flogen Bierkrüge und Stühle durch die Luft. Die Angst war den anderen rund 50 neutralen Gästen ins Gesicht geschrieben. "Eine der beiden Schwangeren konnte sich überhaupt nicht bewegen. Sie stand unter Schock und hat geweint", sagt W. "Es wurde billigend in Kauf genommen, dass normale Gäste in Mitleidenschaft gezogen werden."
Einige HSV-Fans begriffen den Ernst der Lage und brachten einen Großteil der Anwesenden in einem Personalraum des Lokals in Sicherheit. "Sie haben viele Menschen aus dem Gefahrenbereich gebracht und sämtliche Bänke und Tische vor die zerstörten Scheiben geworfen, um zu verhindern, dass noch mehr Chaoten ins Paulaner's gelangen", beschreibt W. die dramatischen Minuten.
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Paulaner's: Es waren wohl viel mehr Täter
Über die genaue Anzahl der gewaltbereiten Täter gibt es unterschiedliche Angaben. Die Polizei sprach in einem ersten Kommuniqué von 15 Personen. Laut W. waren es aber "70 bis 80". Tatsächlich ist auf zwei Videos, die dem Abendblatt vorliegen, zu erkennen, wie mindestens 40 Angreifer das Wirtshaus attackieren. Das Bildmaterial ist zwar nicht verifiziert, aber es deckt sich mit anderen Zeugenaussagen, die das Abendblatt von Beteiligten eingeholt hat.
Mit diesen Informationen konfrontiert, wich die Polizei aber nicht von ihrer ersten Annahme ab. "Die Zahlen basieren auf ersten Erkenntnissen und Zeugenbefragungen vor Ort. Die Ermittlungen dauern noch an", sagte Polizeisprecher Florian Abbenseth am Montag. Für die Beamten kommt erschwerend hinzu, dass zum Zeitpunkt ihres Eintreffens sowohl die St.-Pauli-Ultras als auch die HSV-Fans bereits geflohen waren.
Augenzeuge erhielt Portemonnaie zurück
W. hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Täter im Nachgang gefasst werden. "Für mich sind das Terroristen, die verurteilt gehören", sagt er. Einen kleinen, wenn auch schwachen Trost gibt es immerhin für den 54-Jährigen. Sein Portemonnaie wurde am Wochenende mit vollständigem Inhalt anonym im Paulaner's abgegeben.