Hamburg. Die Rivalität zwischen den Fußballclubs hat die längste Tradition in Norddeutschland– und könnte seit 1919 ganze Bücher füllen.

Fußball-Derbys sind in Hamburg so eine Sache. An vorderster Stelle gibt es das Stadtderby, HSV gegen FC St. Pauli. Groß gegen Klein. Esta­blishment gegen Non-Establishment. Dann ist da das Nordderby, Hamburg gegen Bremen. HSV gegen Werder. Blau-Weiß-Schwarz gegen Grün-Weiß. Außerdem das Bruderduell, großer HSV gegen kleinen HSV. Hamburg gegen Hannover. Und noch die weiteren Nordduelle: HSV gegen Pokalschreck Osnabrück. HSV gegen van-Marwijk-Schreck Braunschweig. Und HSV gegen Fanschreck Wolfsburg. So weit, so gut.

Doch last und ganz bestimmt nicht least ist da ja auch noch die Großmutter aller Nordderbys. Der Hamburger Sport-Verein gegen Holstein Kiel. An diesem Sonnabend (13 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) treffen die beiden Nordclubs in Kiel (inklusive aller Freundschaftsspiele) zum 123. Mal aufeinander. Tatsächlich ist es: ein Jahrhundertduell.

Vor 100 Jahren gab es das erste Aufeinandertreffen

Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass es stürmische Zeiten waren, als sich Holstein Kiel und der HSV erstmals begegneten. Gerade erst hatte es den Kieler Matrosenaufstand gegeben, der in der Endphase des Ersten Weltkriegs zur Novemberrevolution 1918 und in deren Folge zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich geführt hatte. Ein knappes Jahr später kam dann König Fußball ins Spiel. Anlässlich des Kieler Stiftungsfestes kam es zum allerersten Aufeinandertreffen zwischen Holstein und dem HSV, der sich kurz zuvor aus dem Hamburger FC 1888, dem SV Germania und dem FC Falke 06 zusammengeschlossen hatte. Kiel gewann im eigenen Stadion mit 4:1 – und sorgte für die erste große Rivalität des Nordens.

„Derby ist Derby“, sagt ziemlich genau 100 Jahre später HSV-Trainer Dieter Hecking – und hat damit nur bedingt recht. Denn Jahre vor dem ersten Nordduell zwischen dem HSV und Werder, das die Hamburger 1927 übrigens mit 4:1 für sich entscheiden konnten, kämpften Holstein und der HSV längst um die Vorherrschaft im Norden. Von 1921 bis 1933 machten die beiden Rivalen die norddeutsche Meisterschaft im Alleingang unter sich aus. Zehn Meistertitel wurden an Alster und Elbe gefeiert, drei Triumphe an der Kieler Förde bejubelt.

2018 verlor der HSV die Duelle

Im Hier und Jetzt geht es schon lange nicht mehr um große Meisterschaften. Das Nordderby der 20er-Jahre ist zum Zweitligaduell geschrumpft. „Wir müssen uns mit den Besonderheiten dieser Spiele auseinandersetzen“, bekräftigt zwar Hecking. Allerdings hat es dieses einst so besondere Duell zwischenzeitlich 55 (!) Jahre gar nicht mehr als Punktspiel gegeben.

Tatsächlich haben Kiel und Hamburg in der Bundesliga noch nie gegeneinander gespielt – und auch über die bisherigen Duelle in der Zweiten Liga würde man aus Hamburger Sicht zu gerne den Mantel des Schweigens legen. 0:3 ging der Titz’sche HSV bei seiner Zweitligapremiere im Sommer 2018 im Volkspark unter. Und beim 1:3 in Kiel am Tag vor dem Heiligen Abend des vergangenen Jahres lief es aus Wolf’scher HSV-Sicht auch nicht besser.

Christian Titz und Hannes Wolf sind beim HSV Vergangenheit. Genauso wie Kiels erste und einzige deutsche Meisterschaft 1912. An diesem Sonnabend wird Dieter Hecking als HSV-Coach an der Seitenlinie stehen. Eine durchaus gute Nachricht, da Hecking als waschechter Nordderbyexperte gilt. Der gebürtige Nordrhein-Westfale hat neben dem HSV auch noch Hannover 96, den VfL Wolfsburg und den VfB Lübeck trainiert. Als Spieler stand er zudem für Braunschweig auf dem Rasen. Als Trainer war er trotzdem nur einmal im altehrwürdigen Holstein-Stadion aktiv – und gewann prompt 5:2 mit Lübeck.

HSV will den 21. Sieg einfahren

Einen Nordderbyexperten kann der HSV mehr als gut gebrauchen. Tatsächlich ist die Pflichtspielbilanz gegen Nordrivalen in den vergangenen zehn Jahren seit den traumatischen Werderwochen im April 2009 dramatisch. Weder gegen Werder noch gegen den VfL Wolfsburg, Hannover 96, St. Pauli, Braunschweig, Osnabrück und eben auch nicht Kiel kann der HSV mit einer positiven Bilanz in dieser Dekade prahlen (siehe Grafik). Von insgesamt 68 Pflichtspielen in der Bundesliga, der Zw eiten Liga, im DFB-Pokal und im Uefa-Cup konnten die Hamburger in diesem Zeitraum lediglich 20 gewinnen.

Fragt man Hecking, dann wird es aber an diesem Wochenende im rappelvollen Holstein-Stadion Zeit für Sieg Nummer 21. „Wir werden alles dafür tun, in Kiel die drei Punkte mitzunehmen“, sagt der Wahl-Norddeutsche, der seit Jahren mit seiner Familie in Bad Nenndorf im Landkreis Schaumburg wohnt.

In Sachen Norddeutschland kann Heckings Gegenüber Ole Werner sehr viel deutlicher punkten. Der Kieler ist in der Kleinstadt Preetz geboren, 110 Kilometer südlich von der Grenze zu Dänemark. „Die Hamburger wirken sehr stabil und haben eine hohe individuelle Qualität auf dem Platz“, lobt der Ur-Kieler, der mit kurzen Unterbrechungen seit knapp 20 Jahren bei Holstein ist. Doch bei allem Lob sagt Werner auch: „Es ist ein Ligaspiel, das wir gewinnen wollen.“

Jeremy Dudziak dürfte in der Startelf stehen

Auf dem Platz wird der Faktor Norddeutschland eher eine untergeordnete Rolle spielen. Bei Holstein spielen mit dem gebürtigen Hamburger Hauke Wahl und Janni Serra aus Springe aus der Region Hannover lediglich zwei „Nordish by nature“-Profis. Der HSV kann mit dem „Zufalls-Hamburger“ Jeremy Dudziak, der nach eigener Aussage quasi auf der Durchreise nach Duisburg in der Hansestadt geboren wurde, lediglich mit einem „Fischkopp“ in der mutmaßlichen Startelf dienen.

Beim HSV-Abschlusstraining am Freitagnachmittag deutete sich an, dass neben Nordlicht Dudziak auch die restlichen Quiddjes, die bereits am vergangenen Wochenende beim 1:1 bei Wehen-Wiesbaden von Anfang an dabei waren, erneut in der Startelf stehen dürften. Also wahrscheinlich auch wieder in der ersten Elf dabei: der Ex-Kieler David Kinsombi, der in den vergangenen beiden Duellen beeindruckende drei Tore erzielte. Für Kiel. Gegen den HSV. Eine gute Stunde mussten Kinsombi, Dudziak und Co. am Freitag trainieren, ehe sich die Mannschaft auf den Weg gen Norden machte. Ziel eins: Kiel. Ziel zwei: drei Punkte. Und Ziel drei: nicht weniger und nicht mehr als Jahrhundertgeschichte zu schreiben.