Hamburg. Beim 4:0 gegen Aue siegten die HSV-Profis auch für ihren Coach, der wegen familiärer Sorgen das Stadion verließ.
Als HSV-Pressesprecher Till Müller die obligatorische Pressekonferenz nach dem souveränen 4:0-Sieg des HSV gegen Erzgebirge Aue mit einer ungewöhnlichen Anmoderation am frühen Sonntagnachmittag startete („Manchmal gibt es wichtigere Dinge als Fußball“), war Trainer Dieter Hecking längst auf der Autobahn. Der offizielle Grund: familiäre Angelegenheiten. Und so war es Co-Trainer Dirk Bremser, der zu Müllers Linken Platz nahm und nach dem hochverdienten Erfolg über so unwichtige Dinge wie Fußball philosophierte.
Die Mannschaft habe die richtige Antwort auf die Derbyniederlage vom vergangenen Montag gegeben, sagte Bremser. Und: „Die Mannschaft hat es sehr, sehr gut gemacht.“ Was Bremser, Heckings Co-Trainer seit mehr als 18 Jahren, nicht sagte: Diese Mannschaft, ihre Mannschaft, hatte an diesem Tag auch ein wenig für ihren Trainer gewonnen.
„Familie geht über alles"
„Familie geht über alles. Wir sind froh, dass wir ihm eine weitere Sorge erspart haben, indem wir gewonnen haben“, gab mit Neuzugang Martin Harnik dann auch derjenige zu Protokoll, der ganz maßgeblichen Anteil an diesem „reifen Sieg“ (Kapitän Aaron Hunt) hatte. Bei Josha Vagnomans frühem 1:0 (18.) verdeckte der Österreicher zunächst nur Aues Torhüter Martin Männel die Sicht, vor dem 2:0 (32.) bediente er mustergültig Landsmann Lukas Hinterseer, und das 3:0 (46.) erzielte er dann sogar selbst. „Es spricht vor allem für die Mannschaft, dass wir ohne Matchplan des Trainers eine Lösung finden“, sagte jener Harnik dann kurz nach dem Schlusspfiff, als Trainer Hecking das Stadion bereits längst verlassen hatte.
Was Harnik meinte: Sowohl vor dem 2:0 als auch vor dem 3:0 überspielte Abwehrchef Rick van Drongelen die gesamte Aue-Defensive mit millimetergenauen Diagonalbällen, obwohl dies vor der Partie noch gar nicht so geplant gewesen war. „Wir haben uns eigentlich nicht vorgenommen, lange Bälle zu spielen“, gab Harnik zu. „Wir wollten uns durchkombinieren, haben dann aber gesehen, dass Rick nie Druck bekommt und Aue trotzdem relativ hoch stand. Ich bin dann zweimal zu Rick gegangen und habe ihm erklärt, dass ich immer den tiefen Laufweg machen kann. Er hat es dann überragend umgesetzt.“
Alle für einen, einer für alle. An diesem Sonntag mehr denn je. Auch van Drongelen, der am späten Abend auch noch den in die Heimat gereisten Hecking beim NDR-"Sportclub" vertrat, war für Neukollege Harnik voll des Lobes: „Martin hat mir sehr geholfen“, schwärmte der Niederländer. „Er sagte mir zwei Minuten vor dem Tor, dass er den Ball genau dahin haben will. Und dann direkt nach der Halbzeit noch mal. Das hat an diesem Tag einfach gepasst.“
Woher van Drongelen denn diese Zauberpässchen plötzlich gelernt habe, wollte ein Medienvertreter nach der Partie wissen. Der Innenverteidiger lachte. „Ich war extra vor dem Spiel bei der Pediküre, habe mir die Füße eincremen lassen“, witzelte der 20-Jährige.
Schwieriger Tag für Hecking
Dass Trainer Hecking an diesem für ihn so schwierigen Tag nicht zum Scherzen zumute war, konnten aufmerksame Beobachter bereits vor dem Anpfiff beobachten. Der Coach, der auch das Abschlusstraining am Vortag und sämtliche TV-Interviews vor und nach der Partie abgesagt hatte, kam als Letzter aus der Kabine, klatschte jeden Spieler und jeden Betreuer ab. Die gleiche Geste wiederholte er nach Schlusspfiff, ehe er als Erster in der Kabine verschwand. Dazwischen: 90 Minuten lange Abwechslung.
„Familiäre Probleme sind immer schwierig – für jeden Einzelnen“, sagte nach der Partie Hunt, der kurz zuvor im Spiel für den 4:0-Schlusspunkt höchst persönlich gesorgt hatte (62.). „Wir können uns natürlich vorstellen, wie sich der Trainer fühlt. Ich glaube nicht, dass er das Spiel die ganze Zeit im Hinterkopf hatte. Er wird jetzt andere Gedanken haben. Vielleicht ist es uns ja heute geglückt, dass er sich zumindest keine Sorgen um uns und das Spiel machen musste.“ Und bevor auch Hunt verschwand, noch ein vielsagender Satz: „Wir fühlen mit ihm mit, das ist doch klar.“
Sechs Tage, nachdem sich bereits alle HSV-Profis im Trikot des schwer verletzten Jan Gyamerah (Wadenbeinbruch) am Millerntor warm gemacht und dann dummerweise trotzdem das Lokalderby mit 0:2 verloren hatten, waren die Gedanken an diesem Sonntag vor allem beim Trainer und seiner Familie. „Es war heute nicht einfach“, gab Stürmer Hinterseer nach dem Schlusspfiff zu. „Wir wollten auch vergangene Woche schon für Gyambo gewinnen. Heute ist es uns für beide gelungen.“
"Spiel souverän runtergespielt"
Beim HSV respektierte man Heckings Wunsch, keine genauen Angaben zu den familiären Gründen öffentlich zu machen. Und so blieb seinem besten Freund Dirk Bremser nach der Partie nur, über die schönste Nebensache der Welt zu sprechen. „Wir haben dieses Spiel souverän runtergespielt. Das ist gegen eine Mannschaft wie Aue keine Selbstverständlichkeit“, sagte Heckings Schattenmann, der sonst nur sehr ungern das grelle Licht der Öffentlichkeit sucht.
Bereits am Sonnabend hatte er die Mannschaft ohne Hecking, aber mit Co-Trainerkollege Tobias Schweinsteiger auf die Partie gegen Aue eingestimmt. Und offenbar hatten die beiden Hecking-Assistenten genau die richtigen Worte gefunden. Ohnehin fällt es auf, dass sich Hamburgs runderneuerte Mannschaft in diesem Jahr weder durch persönliche Schicksale (Hecking) noch durch die wochenlangen Diskussionen um die angeblich falsche Identität Bakery Jattas ablenken lässt. „Wir haben dieses Jahr eine viel reifere Mannschaft als im vergangenen Jahr. Das sieht man auch in den Spielen. Und sah man auch an diesem Sonntag gegen Aue“, sagte Kapitän Hunt.
Es war das Schlusswort an einem Tag, der zweierlei verdeutlichte: wie schön Fußball im Volkspark sein kann. Und: wie unwichtig so ein Fußballspiel im Volkspark gleichzeitig sein kann. An diesem Montag ist jedenfalls um 10 Uhr wieder Training. Ob mit oder ohne Trainer Hecking, steht noch nicht fest.