Hamburg. Experten raten dem HSV zu Mentaltraining, doch der Club könnte zu spät darauf reagieren. Wie Trainer Wolf zu dem Thema steht.
Für den trainingsfreien Montag hatte HSV-Coach Hannes Wolf seinen Spielern noch ein paar Hausaufgaben mit auf den Weg gegeben. Die Profis sollten nach den Negativerlebnissen der vergangenen Wochen einen Tag lang abschalten, auf andere Gedanken kommen und den Kopf durchlüften lassen. Fußball sei schließlich auch Kopfarbeit – und natürlich nicht nur beim Kopfball.
Was so logisch und nachvollziehbar klingt, scheint beim HSV noch immer ein schwieriges Thema zu sein. Mentaltraining? Kann man machen, muss man aber nicht machen. Als Sportvorstand Ralf Becker am Sonntag darauf angesprochen wurde, antwortete der HSV-Manager: „Grundsätzlich stehe ich allem offen gegenüber, ob das ein Psychologe ist, ein Ernährungsberater oder eine Yoga-Frau. Das kann man alles diskutieren.“
HSV hat einige Psychologen verschlissen
Tatsächlich gibt es kaum ein Thema, das beim HSV über die Jahre so oft diskutiert wurde wie die Sinnhaftigkeit von mentalem Training. So kann man die Sportpsychologen, die sich im Volkspark in den vergangenen Jahren ausprobieren durften, kaum noch an einer Hand abzählen. Jürgen Lohr war der Erste, den Ex-Trainer Thomas Doll 2006 in den Trainerstab integrierte. Nach nur 18 Monaten war bereits Schluss. Es folgte der Bochumer Sportpsychologe Thorsten Weidig, für den 2011 bei den Profis alles wieder vorbei war, bevor er wirklich beginnen konnte.
Heiko Hansen wurde von Dezember 2014 bis zum Sommer 2015 beschäftigt. Dann war der Klassenerhalt gesichert – und Hansens Arbeit getan. Am längsten hielt es Christian Spreckels aus, der von Oktober 2016 bis zum vergangenen Sommer beschäftigt wurde. Dann musste auch er gehen – und der HSV stand da, wo er vor 13 Jahren stand.
Experte: Thema wird "grob fahrlässig unterschätzt"
„Die handelnden Personen im Fußball können leider noch immer nicht viel mit Mentaltraining, beziehungsweise mit Sportpsychologie anfangen“, sagt Jürgen Lohr, der später auch bei Borussia Dortmund unter Vertrag stand. „Die Bedeutung der mentalen Stärke wird im Fußball grob fahrlässig unterschätzt.“
Der Hamburger verfolgt den HSV seit seiner Zeit im Volkspark sehr intensiv – und glaubt, dass nach den zahlreichen Negativerlebnissen auch jetzt noch mentales Training guttun würde. ,,Aus meiner Sicht würde es auch in dieser Situation noch Sinn ergeben, das tägliche Training beim HSV durch mentales Training zu ergänzen. Es würde helfen, in Einzelgesprächen das Vertrauen der Spieler in ihre eigene Stärke zu reaktivieren“, sagt Lohr am Telefon. „Man müsste den Profis beispielsweise Szenen vor Augen führen, in denen sie in einer richtig guten Verfassung waren.“
Leipzig und Ajax als Positivbeispiele
Alles also nur Kopfsache? Wahrscheinlich nicht alles, aber sehr vieles.
Christian Spreckels sitzt im Café Balzac nahe der Universität und trinkt einen Muntermacher-Saft. Über den HSV oder andere Clubs will der diplomierte Sportwissenschaftler und Psychologe nicht explizit sprechen, über das Phänomen Sportpsychologie im Allgemeinen aber sehr wohl. „Die Belastungsfaktoren für Fußballer, die unter dem Brennglas der Öffentlichkeit stehen, sind extrem hoch“, sagt Spreckels. „Deswegen wäre es wünschenswert, wenn Fußballer dieses Phänomen auch für sich erkennen würden.“
Und genau an dieser Stelle wird es interessant. Denn während immer mehr Fußballer entscheiden, sich selbst durch mentales Training zu unterstützen, ist bei den Clubs bis auf wenige Ausnahmen kaum ein Umdenken erkennbar. Eine der Ausnahmen in Deutschland: RB Leipzig, wo gleich drei feste angestellte Sportpsychologen im Nachwuchs tätig sind. Ein internationales Positivbeispiel: Ajax Amsterdam. Auch der Überraschungsclub der diesjährigen Champions-League-Saison setzt auf ein ganzheitliches Mentalkonzept von der Jugend bis zu den Profis, wie es Experten wie Spreckels befürworten würden: „Optimalerweise wird Mentaltraining auch kontinuierlich und nicht nur in Krisensituationen angeboten“, sagt er.
Hannes Wolf gegen "Troubleshooting"
Auf Nachfrage stimmt HSV-Trainer Hannes Wolf dieser These zu 100 Prozent zu. Er stehe mentalem Training offen gegenüber, sagt Wolf. „Es muss nur immer im richtigen Moment und kontinuierlich über die Zeit sein. Und nicht als Troubleshooting.“ Nach Abendblatt-Informationen soll nun geprüft werden, ob sich der HSV in diesem Bereich für die kommende Saison verstärkt – auf die Gefahr hin, dass es bereits zu spät ist.
Nur geringfügig früher dran ist der FC St. Pauli. Seit Anfang dieses Jahres ist Frauke Wilhelm auf Wunsch von Ex-Sportchef Uwe Stöver und Ex-Trainer Markus Kauczinski als Sportpsychologin fest beschäftigt. Ob Wilhelm aber nach der Doppelentlassung der beiden bleiben darf, ist noch offen. Denn auch beim Kiezclub sind nicht alle von der Installierung eines „Seelenklempners für Fußballer“ begeistert. Ex-Trainer Ewald Lienen etwa sagte mal über den früheren Mentaltrainer Thomas Stickroth, dass er diese Arbeit doch am besten selbst könne.
"Keine leistungsfreundliche Kultur" beim HSV?
Spreckels hat seinen Muntermacher im Uni-Café ausgetrunken. „Im Fußball wird die Komponente Kopf oft dem Zufall überlassen“, sagt er. „Das halte ich für unangemessen. Oft heißt es dann: Wir brauchen jetzt mal ein Erfolgserlebnis. Doch was passiert eigentlich, wenn dieses Erfolgserlebnis ausbleibt?“
Eine Frage, auf die auch beim HSV kaum jemand eine Antwort hat. Und genau das gehört nach Meinung von Lohr auch zum Problem des Clubs. „Beim HSV erkenne ich keine leistungsfreundliche Kultur“, kritisiert der Coach. „Umfeld und Umwelt sind der stärkste Einflussfaktor auf die mentale Verfassung einer Profimannschaft – und genau hier scheint beim HSV ein großes Problem zu schlummern. Man hat oft das Gefühl, dass den Spielern zusätzliche Baggersteine in den Rucksack gepackt werden.“
Wie schwer diese Rucksäcke momentan tatsächlich sind, wird man wohl erst am Sonntag im Spiel gegen den SC Paderborn überprüfen können. Teilzeitpsychologe Wolf wird jedenfalls nicht müde zu betonen, dass es lediglich fünf Wochen her sei, dass seine Mannschaft den SC im Pokal überzeugend 2:0 schlagen konnte. Auf die Siegerstraße brachte den HSV seinerzeit Pierre-Michel Lasogga, der beide Tore erzielte. Das erste übrigens – natürlich – mit dem Kopf.