Hamburg. Nach dem blamablen 0:3 gegen Ingolstadt bekennen sich Becker und Hoffmann überraschend zu Wolf. Das Team gleicht einem Scherbenhaufen.
Irgendwie war es ein Sonntag wie so viele andere Sonntage im Volkspark. Die Sonne schien, doch der Wind war kalt. Um Punkt elf Uhr ging Trainer Hannes Wolf die Treppe vom Stadion zu den Trainingsplätzen herunter, wünschte den Kiebitzen einen guten Morgen und marschierte auf den Platz. Warmmachen, Kreisspiel, Passübungen und ein kleines Abschlussspiel der Reservisten, die am Vortag nicht oder nur kurz zum Einsatz kamen. Dann, nach knapp 90 Minuten, war’s das.
Gut 20 Stunden zuvor, nach den 90 Minuten zwischen dem HSV und dem FC Ingolstadt, reihten sich die selben Wörter aneinander, verziert nur mit einem Fragezeichen: War’s das?
0:3 hatte der HSV gerade sein Heimspiel gegen den Tabellenvorletzten aus Ingolstadt verloren. Die zuvor zum Endspiel um einen Aufstiegsrang deklarierte Partie war das siebte sieglose Spiel in Folge – und schlimmer noch: es war ein fußballerischer Offenbarungseid, wie man ihn in dieser Form nicht einmal beim 0:5 gegen Regensburg oder beim 0:3 gegen Kiel am ersten Spieltag gesehen hatte. In der bisherigen Rückrundentabelle rutschte der Aufstiegskandidat a.D. auf einen Abstiegsrang – und auf und abseits des Rasens waren Auflösungserscheinungen zu beobachten.
Ein paar Fans kletterten über den Zaun, Spieler flüchteten in die Kabine und Abwehrmann Rick van Drongelen heulte Rotz und Wasser. Vorstandschef Bernd Hoffmann, Sportchef Ralf Becker und Sportdirektor Michael Mutzel trafen sich zum Krisengipfel, das Aus von Trainer Wolf schien unausweichlich – und trotzdem war am späten Sonnabend nur eines klar: der folgende Tag würde kein Sonntag wie so viele andere Sonntage werden.
Wolf freut sich über Treuebekenntnis
Wie man sich doch irren kann. Am Sonntagmittag steht Immer-noch-Trainer Wolf am Rande des Trainingsplatz, die Hände in den Taschen, und lächelt in die zahlreichen Kameras. „Natürlich machen sich nach so einem Spiel alle Gedanken, saßen zusammen und haben gesprochen“, fasst der Coach die Ereignisse des Vortags noch einmal in wenige Worte zusammen. „Mir wurde das Vertrauen ausgesprochen. Das ist gut. Jetzt geht es mit voller Energie weiter.“
Doch kann es nach einer derart epischen Blamage wie am Vortag tatsächlich einfach so weitergehen? Eine simple Frage, auf die ein Großteil der Fans eine genauso simple Antwort parat hatte. Und gleichzeitig eine Frage, mit deren Beantwortung sich Sportvorstand Becker direkt nach dem Spiel zunächst noch sehr schwer tat. „Wir werden das Spiel in Ruhe aufarbeiten und uns besprechen. Ich muss das auch erst mal verarbeiten“, sagte der Manager, als wenige Minuten nach dem 0:3 gegen Ingolstadt zur Zukunft von Trainer Wolf befragt wurde. „Ich muss mir erst mal in Ruhe Gedanken machen und die Situation besprechen. Am Ende geht es immer um das Beste für den Verein. Mehr gibt es dazu jetzt nicht zu sagen.“
Gesagt und geredet wurde dann aber doch jede Menge. Intern. Hinter verschlossenen Türen. Fast drei Stunden lang besprachen sich Becker, Hoffmann und Mutzel. Zwischendurch wurde auch noch Trainer Wolf ins Büro im Volksparkstadion dazu gebeten, ehe am frühen Abend offiziell via WhatsApp verkündet wurde, dass man zur Entscheidung gekommen sei, „den Weg mit Hannes Wolf weiterzugehen“.
Becker: Wir haben keine finanziellen Mittel
Die ausführliche Begründung folgte am Sonntagmittag nach dem Training. „Nach so einem Spiel muss man sich einfach mal kurz zurückziehen und die Situation besprechen. Genau das haben wir gemacht. Und relativ schnell waren wir uns dann einig“, sagte Becker in die ihm entgegengereckten Mikrofone. „Wir haben ein sehr, sehr gutes Gefühl mit dieser Konstellation. Und wir müssen uns hier beim HSV grundsätzlich mal andere Frage stellen: In den letzten zehn Jahren war immer gleich der Trainer schuld. Mittlerweile sind wir ein Zweitligaverein und haben keine finanziellen Mittel mehr. Von daher müssen wir auch mal etwas gemeinsam aushalten, wenn man von der Konstellation überzeugt ist. Und das sind wir“, sagte der Sportchef.
Debakel! HSV mit blutleerem Auftritt gegen Ingolstadt
Was Becker nicht sagte, aber durchaus andeutete: Letztendlich fehlten zwei Spieltage vor Schluss wohl auch die überzeugenden Alternativen. Sowohl intern als auch extern. „Wir haben keine B-Lösung“, erklärte der Schwabe, der – anders als zuvor – dem massiv in der Kritik stehenden Wolf keinen Freifahrtschein über die Saison hinaus mehr ausstellen wollte. „Es ging nur darum, was in diesem Moment die beste Konstellation ist. Das Beste ist – und das haben wir gestern entschieden – in dieser Konstellation erst einmal nach Paderborn zu fahren.“
Völlig verrückt: HSV kann noch aufsteigen
Dabei gehört es zur Irrationalität des Fußballs, dass der wolfsche HSV trotz allem noch immer beste Chancen im Aufstiegsrennen hat. Rein theoretisch natürlich. Denn nachdem auch Paderborn (0:2 in Bielefeld) und Union Berlin (1:2 in Darmstadt) verloren haben, würden den Hamburgern zwei Siege, in Paderborn und gegen den Tabellenletzten Duisburg, definitiv für Relegationsplatz drei, möglicherweise sogar für den direkten Aufstieg auf Rang zwei reichen.
Das Restprogramm der Aufstiegskandidaten
Der 1. FC Köln, der in der vergangenen Woche Trainer Markus Anfang entlassen hatte, kann im Übrigen bereits am heutigen Montag mit einem Unentschieden in Fürth den Aufstieg endgültig perfekt machen.
In der Praxis sind zwei HSV-Siege in den letzten beiden Saisonspielen nach dem erschütternden 0:3 gegen Ingolstadt allerdings kaum vorstellbar, auch wenn Wolf sagt: „Der Fußball macht verrückte Sachen. Es kann ganz schnell in die eine oder in die andere Richtung gehen.“
Spieler wollten Gang in die Fankurve schwänzen
Am Sonnabend ging nur leider kaum etwas in die eine entscheidende Richtung. Laut Statistikzettel hatte der HSV zwar 18:9 Torschüsse, bekam aber nicht einen einzigen auf das Tor. „Vorne hatten wir keinen Zugriff, kein Tempo. Wir waren einfach schlecht“, gab Gotoku Sakai zu, der die Kapitänsbinde von Aaron Hunt (verletzt) und Lewis Holtby (suspendiert) übernommen hatte. Der Interimskapitän war auch der einzige Spieler, der sich nach der Blamage den Fragen stellte.
Eine ganze Reihe von Spielern wollte sogar den üblichen Gang in die Kurve schwänzen, nachdem die Anhänger zuvor ihren Unmut lautstark kundgetan hatte. „Der erste Impuls der Jungs war, in die Kabine zu gehen. Ich bin dann hinterher und habe gesagt: ‚Wir gehen jetzt wieder raus.’“, berichtet Wolf am Sonntag. „Ich kann den Unmut der Fans total verstehen. Es war wichtig, dass wir uns dem nach dem Spiel gestellt haben.“
Sakai versteht den Fanfrust
Dabei hatten die HSV-Fans unter den 50.768 Zuschauern vor der Partie noch gute Miene zum schlechten Spiel gemacht und die seit dem Derbysieg gegen St. Pauli (4:0) sieglosen Hamburger lautstark unterstützt. Die gute Stimmung schlug allerdings bereits nach acht Minuten um, als Dario Lezcano einen Fehler Léo Lacroixs ausnutzte und einen Konter zum 0:1 abschloss.
Nach dem 0:2 durch Thomas Pledl (68.) und dem 0:3 durch Marcel Gaus (72.) hatten die leidgeprüften Anhänger endgültig genug – und feierten in den letzten Minuten jeden Ballkontakt eines Ingolstädters mit hämischen „Olé“-Rufen. „Ich verstehe, dass die Fans ärgerlich reagieren, wenn wir so ein Heimspiel abliefern“, sagte Sakai nach dem erneuten Tiefpunkt. „Mir persönlich tut das sehr, sehr weh.“
Doch wie geht es nun weiter? Zunächst einmal mit einem freien Montag – und dann mit Trainer Wolf und aller Konzentration auf den kommenden Sonntag. Der HSV kann dann den Aufstieg endgültig verspielen, er kann Relegationsrang drei vorerst übernehmen oder sogar auf Platz zwei klettern. Es wird – und nur das steht fest – kein Sonntag wie so viele andere Sonntage.