Hamburg. Projekt Profi: HSV-Talent Stephan Ambrosius wollte 2019 endlich durchstarten – und muss nun ganz von vorne beginnen.

Stephan Ambrosius liegt auf einer Liege im Athleticum des UKE, als das Kopfkino noch einmal von vorne losgeht. „Es war ein Luftduell“, sagt der 20-Jährige, und schiebt seinen schwarzen Kapuzensweater über seine Unterhose hoch, damit ihn Physiotherapeut Benjamin Eisele besser behandeln kann. „Ich habe den Ball erst weggeschlagen, dann war da plötzlich der Gegenspieler.“

An den Rest kann sich Ambrosius nur schemenhaft erinnern: Sein Knie und der Rücken vom Gegenspieler seien irgendwie aneinandergeraten. Dann spürte er einen plötzlichen Schmerz, allerdings keinen wirklich schlimmen. „Ich wollte eigentlich weiterspielen. Direkt nach dem Spiel dachte ich an eine Prellung, aber nicht an so etwas.“

Mit „so etwas“ meint Ambrosius sein rechtes Knie. Am nächsten Morgen musste der Innenverteidiger, der im Spiel mit der U21 des HSV gegen Holstein Kiel II (2:0) tatsächlich noch fünf Minuten weiterspielte, zum Ultraschall. Wegen zu viel Flüßigkeit im Knie wurde Ambrosius von dort direkt zum MRT geschickt, die endgültige Diagnose erhielt er am Nachmittag: „Dann kam der Anruf: dein Kreuzband ist gerissen.“

Ambrosius dachte an Karriereende

Spätestens in dem Moment wird aus dem Kopfkino ein regelrechter Horrorstreifen. „Das ist echt ein schlimmes Gefühl“, erinnert sich Ambrosius, dem nach dem Anruf Hunderte Gedanken auf einmal durch den Kopf schossen: OP, Reha, seine Profikarriere, vielleicht sogar das Karriereende? Was ist mit der Wohnung, die er gerade gekauft hat? Wie ist das mit der Berufsunfähigkeitsversicherung?

„Mit der Zeit lernt man, mit der Nachricht umzugehen“, sagt Ambrosius ein paar Tage später, als Benjamin Eisele gerade Hand an seinen Oberschenkel legt. „Vor 20 Jahren wäre das noch ein Karrierekiller gewesen. Aber die Medizin ist ja echt weit. Ich war schnell davon überzeugt, dass ich stärker als zuvor zurückkommen will.“

Ambrosius: Neue Methode bei Knie-OP

Doch zunächst einmal stand die Operation auf dem Programm. Am Tag vor Ambrosius’ 20. Geburtstag. Da das vordere Kreuzband nicht gerissen, sondern „nur“ am Knochenansatz rausgerissen war, entschieden sich Prof. Karl-Heinz Frosch und HSV-Mannschaftsarzt Götz Welsch für eine neue Operationsmethode: dem sogenannten Ligament Bracing. „Mit einem ganz festen Faden wird das ausgerissene Kreuzband umnäht oder umschlungen. Das abgerissene Stück wird in den Knochen wieder reingezogen“, erklärt Welsch.

Stephan Ambrosius (l.) wird im Athleticum von Physiotherapeut Benjamin Eisele  behandelt.
Stephan Ambrosius (l.) wird im Athleticum von Physiotherapeut Benjamin Eisele behandelt. © WITTERS | ValeriaWitters

Mit diesem Faden könne man sogar einen LKW ziehen, sagt der Arzt. „Die Idee dahinter ist, dass das Kreuzband besser heilen kann als bei der herkömmlichen Methode.“ Und fast genauso wichtig: „Man geht davon aus, dass man durch diese neue Methode nach kompletter Ausheilung eine bessere Funktionalität im Kniegelenk hat.“

Die Angst vor dem Karriereende war also schnell verflogen. Die Schmerzen in den Tagen danach nicht. „Die Stunden nach der OP habe ich kaum etwas gemerkt. Aber in der Nacht darauf hatte ich dann doch ziemlich starke Schmerzen“, sagt Ambrosius. „Und der Morgen danach war eine Katastrophe.“

Khedira und Rüdiger als Vorbilder

Doch mindestens genauso groß wie die Schmerzen war der unbändige Wille, alles für eine bestmögliche Genesung zu tun. Nur drei Tage nach der OP lag Ambrosius also bereits das erste Mal auf der Behandlungsliege, auf die er nun täglich – sogar am Heiligen Abend und zu Silvester – gebeten wird und wurde. „Ich will die Rehaphase gut nutzen“, sagt der angehende Fußballprofi und streicht über sein bandagiertes Knie. „Mein Ziel ist es, gesund wieder zu kommen. Nicht schnell. Schnell bringt mir nichts, wenn die Gesundheit nicht stimmt.“

Natürlich gibt es keinen günstigen Moment, um sich eine so schwere Verletzung wie einen Kreuzbandriss zuzuziehen. Aber gäbe es ihn, dann hätte Ambrosius den perfekten Moment erwischt. Denn weil die voraussichtliche Zwangspause sieben bis acht Monate beträgt – laut einer Uefa-Untersuchung fallen Profifußballer im Schnitt 7,8 Monate nach einem Kreuzbandriss aus –, darf Ambrosius darauf hoffen, in der Vorbereitung zur neuen Saison wieder durchzustarten: „Wenn man fest daran glaubt, dann wird es klappen.“

Stephan Ambrosius wird seit dem Saisonbeginn vom Abendblatt begleitet. Das Multimediaprojekt ist unter www.abendblatt.de/ambrosius zu finden.
Stephan Ambrosius wird seit dem Saisonbeginn vom Abendblatt begleitet. Das Multimediaprojekt ist unter www.abendblatt.de/ambrosius zu finden. © Witters

Mit positiven Beispielen wurde Ambrosius in den vergangenen Tagen regelrecht bombadiert. Sami Khedira etwa sei bereits sechs Monate nach seinem Kreuzbandriss pünktlich zur WM in Brasilien zurück auf den Platz gekehrt. Oder Antonio Rüdiger, den Ambrosius schon bei seinem ersten Treffen mit dem Abendblatt als eine Art Vorbild bezeichnet hatte: „Rüdiger hat sich kurz vor der EM in Frankreich das Kreuzband gerissen. Und er ist auch stärker als je zuvor zurückgekommen.“

Bei 95 Prozent reißt das vordere Kreuzband

Glück im Unglück hatte Ambrosius, weil er sich – wie 95 Prozent aller Kreuzbandgeschädigten – am vorderen Band verletzte. Komplizierter wäre es geworden, wenn er sich eine Ruptur des hinteren Kreuzbandes zugezogen hätte – wie einst Ex-HSV-Profi Paulo Guerrero. Den Worst Case überhaupt hat Ambrosius’ Mannschaftskollege Jairo Samperio gerade erst erleben müssen: Riss des vorderen und des hinteren Kreuzbandes.

Doch auch an eine Rückkehr seines Kollegen glaubt Ambrosius fest: „Viele Profis haben sich das Kreuzband gerissen und sind stärker zurückgekommen als zuvor.“ Und überhaupt: „So eine Verletzung gehört doch zum Profisein dazu. Da muss man durch.“

Am Glauben mangelt es Ambrosius nicht. Am Silvesterabend will er mit seiner Mutter in die Kirche in Billstedt gehen – und beten. Nicht für sich oder für sein Knie, sondern für ein gutes, neues Jahr 2019. „Es gibt schlimmere Sachen. So etwas passiert nun mal leider beim Fußball“, sagt der Neu-Luruper, der seinen Traum von einer Profikarriere auf keinen Fall aufgeben will. Selbst ein Kreuzbandriss ist eben kein Beinbruch.