Hamburg. Erstmals stehen HSV und St. Pauli gemeinsam oben – dummerweise nur in der Zweiten Liga. Doch das soll sich bald ändern.
Am Dienstagmorgen hätte man in Hamburg fast den Eindruck haben können, die Stadt habe etwas zu verbergen. Trüb und nebelig war es. Und selbst von der Plaza der Elbphilharmonie, von wo aus man normalerweise den besten Blick über den Hafen und die Stadt hat, war aus 37 Metern Höhe kaum etwas zu erkennen. Alles wirkte irgendwie trist, herbstlich und sogar bedrückt. Oder besser: fast alles.
Denn ein flüchtiger Blick am Zeitungskiosk genügte an diesem eigentlich so typisch hamburgischen Novembermorgen, um zu erkennen, dass nichts so war, wie es schien, und eine ganze Stadt gerade Purzelbäume mit Anlauf schlug. Die „Mopo“ titelte auf Seite eins „Europas Fußball-Hauptstadt“ und hatte der lieben Ordnung halber noch ein kleines „Zweitliga“ zwischen „Europas“ und „Fußball-Hauptstadt“ geklemmt. Die „Bild“-Zeitung beließ es bei einem lang gezogenen „Jaaasogga!“, und das Abendblatt präzisierte: „Lasogga schießt den HSV an die Spitze“.
Und so war es auch wenig verwunderlich, dass sich diese trügerischen Wolken und der Nebel pünktlich zum Trainingsstart des HSV um 12 Uhr verzogen und die Sonne den neuen Tabellenführer der Zweiten Liga strahlend empfing. Der HSV: Erster nach einem Drittel der Saison mit 24 Punkten. Und noch überraschender: der FC St. Pauli, der das plötzlich herrliche Herbstwetter genießen wollte und sich einen trainingsfreien Tag gönnte, Zweiter mit beeindruckenden 22 Punkten. Fußball-Hamburg, was willst du mehr?
„Für Hamburg ist das natürlich eine tolle Situation: Erster und Zweiter in der Tabelle. Ich weiß gar nicht, ob es das schon jemals gegeben hat“, hatte HSV-Abwehrmann Léo Lacroix bereits am Vorabend gesagt, kurz nachdem er und seine Kollegen den bisherigen Tabellenführer 1. FC Köln durch einen völlig verdienten 1:0-Sieg gestürzt hatten. Einmalig war diese Tabellenkonstellation zwar nicht: Nach dem ersten Spieltag der Saison 1979/80 stand Hannover 96 in der Nordstaffel der Zweiten Liga als Tabellenführer vor dem Lokalrivalen Arminia Hannover. Aber außergewöhnlich ist das Hamburger Hoch im November natürlich schon.
„Wenn man sich nach so einem Spiel nicht mehr freuen kann, dann hat man irgendwann auch ein Problem“, sagte Neu-Trainer Hannes Wolf am Mittag danach und blinzelte in die kräftige Herbstsonne. Und trotzdem war der Nachfolger des vor gerade einmal zwei Wochen entlassenen Christian Titz bemüht, den Ball flach zu halten. „Natürlich war das ein schöner Abend. Aber man muss auch nach so einem Erfolgserlebnis in seiner Mitte bleiben.“
St. Pauli hält an Saisonziel fest
Dass der HSV nach zwölf Spieltagen fernab der Tabellenmitte steht, hatte der eine oder andere vor der Saison erahnt. Dass auch der Lokalrivale vom FC St. Pauli mit der Tabellenmitte wenig zu tun haben würde, darf dagegen durchaus als Überraschung bezeichnet werden. Eine Überraschung, an die sich Geschäftsführer Andreas Rettig gewöhnen könnte. „Die jetzige Tabellensituation ist die einzige Konstellation, bei der ich keinen Groll hegen würde, wenn der HSV vor uns stehen würde“, scherzt der 55-Jährige, der die momentane Hamburger Vormachtstellung im Bundesliga-Unterhaus aber auch nicht überbewerten will.
Noch immer ist allgegenwärtig, dass vor noch gar nicht so langer Zeit deutschlandweit gescherzt wurde, dass Hamburg alles kann außer Fußball: „Wir haben noch sehr gut die Boulevard-Bilder der zertrümmerten Logos beider Vereine aus dem letzten Jahr vor Augen“, sagt Rettig. „Wir wissen genau, wie schnell sich das alles ändern kann.“
Geändert hat sich St. Paulis offizielles Saisonziel, ein Platz unter den ersten sechs Mannschaften, trotz des zweiten Tabellenplatzes nicht. Rund zwölf Millionen Euro geben die Braun-Weißen derzeit für ihren Kader aus. Im Ligavergleich rangieren sie in etwa auf Rang sechs. Zum Vergleich: Der HSV steht mit 28,5 Millionen Euro dort, wo der Club auch in der sportlichen Tabelle zu finden ist: ganz oben.
Lasogga: „Wichtig, dass wir vor St. Pauli stehen“
Das Wort Bundesliga steht beim Kiezclub aber genauso wenig auf dem Index wie beim HSV. „Wir wollen in die Bundesliga aufsteigen, aber wir sagen nicht, dass das in den nächsten Jahren passieren wird. Aber ich glaube daran, dass es irgendwann passieren wird“, sagte Präsident Oke Göttlich im Mai dem Abendblatt.
Beim HSV soll dieses Irgendwann bitte schön im kommenden Mai sein. „Wir wollen jetzt nicht nur eine Woche feiern. Ich hoffe, dass wir das auch fortsetzen können und uns da oben festsetzen“, sagte Matchwinner Pierre-Michel Lasogga, der an vier von fünf Pflichtspieltreffern seit dem Trainerwechsel direkt beteiligt war. Doch auch das Formhoch vom Nachbarn war Lasogga nicht entgangen: „Auch wenn die Rivalität groß ist: Für die Stadt ist es sehr schön, dass beide Clubs so eine klasse Saison spielen. Trotzdem ist es wichtig, dass wir immer vor St. Pauli stehen.“
An der Reihenfolge in der Stadt wird vorerst also nicht gerüttelt. Doch auch bei den Fans des Kiezclubs ist die Euphorie ebenso groß wie die Lust der Spieler, das positive Momentum fortzuführen. „Oben ist es natürlich schön. Aber man darf sich nicht vernebeln lassen, dass es ist nur eine Momentaufnahme ist. Nach einem Spieltag kannst du auch Vierter oder Fünfter sein“, sagt Trainer Markus Kauczinski, der in dieser Saison auch schon die Kehrseite des Fußballlebens kennenlernen musste.
Kauczinski stand vor dem Aus
Nach dem desolaten 1:3 am 16. September beim nächsten HSV-Gegner Erzgebirge Aue wackelte sein Trainerstuhl fast so gewaltig wie der wenig später von Christian Titz. Bei einer weiteren Niederlage in Ingolstadt wäre Kauczinski seinen Job wahrscheinlich los gewesen. Mit U-19-Trainer Timo Schultz und dem derzeitigen Co-Trainer André Trulsen soll bereits ein Plan B in der Schublade gelegen haben.
Es kam anders. Ryo Miyaichi köpfte St. Pauli zum Sieg in Ingolstadt. Anschließend verlor das Kauczinski-Team nur eines der folgenden sechs Spiele und etablierte sich in der Topgruppe der Liga. Und das trotz der Tatsache, dass es noch kein komplett überzeugendes Spiel in dieser Saison gab. „Man braucht nicht auszuflippen, weil jeder weiß, wie eng es zugeht. Man muss es aber auch nicht runterspielen, sondern kann den Moment genießen“, sagt Kauczinski, der sich den HSV-Sieg gegen Köln gemütlich von der Couch aus anschaute.
Stadtmeisterschaft vakant: St. Pauli erkämpft Punkt beim HSV
Dort saß auch HSV-Kollege Wolf noch vor kurzer Zeit. „Ich bin ja erst zwei Wochen da“, beantwortete der Titz-Nachfolger die wenig kreative Frage, wie viel Wolf denn nun schon in diesem HSV stecke. „Ich wiederhole es gerne: Ich habe eine fitte und intakte Mannschaft übernommen. Sonst würde das nicht gehen“, sagte der Fußballerlehrer, der mit dem vierten Pflichtspielsieg in Folge am Sonnabend in Aue den HSV-Rekord zum Trainereinstand brechen könnte. Wirklich interessieren scheint ihn diese Bestmarke aber nicht: „Wir dürfen jetzt nicht denken, dass wir ein Erfolgsrezept haben. Das haben wir nicht. Es gibt nur harte Arbeit.“
Die Aussichten bleiben aber hervorragend. Meteorologisch und tabellarisch. An diesem Mittwoch werden 16 Grad, Sonne satt und optimales Elbphilharmonie-Ausblicks-Wetter vorausgesagt. Und sportlich? Heißen die nächsten Gradmesser Aue (HSV) und Heidenheim (St. Pauli). Der Winter, da ist man sich beim HSV und beim FC St. Pauli ausnahmsweise einig, kann kommen.