Hamburg. Der US-Stürmer steht exemplarisch für den schwächsten Angriff der Liga. Die Analyse einer Fehlerkette, die im Sommer begann.

Nicolai Müller nutzte den freien Montag für eine kleine Trainingseinheit. Torschüsse aus kurzer Distanz standen auf dem Programm. Und Müller zeigte sich treffsicher. Im Tor: Etienne Müller. Vier Jahre alt. Und bereits mit einer ähnlich guten Schusstechnik ausgestattet wie sein Vater. Zu begutachten in einem Video, das Müller Senior via Instagram postete.

Bereits am Sonntag hatte der HSV-Stürmer Torschüsse trainiert. Und zwar mit seiner Mannschaft im Volkspark. „Macht Spaß“, sagte der 30-Jährige anschließend in einem kurzen Kommentar. Ziemlich genau acht Monate nach seinem Kreuzbandriss am ersten Spieltag der Saison gegen den FC Augsburg rückt das Comeback des HSV-Topscorers der vergangenen zwei Jahre näher. Das Bittere für den Club und seine Fans: Müllers Rückkehr kommt wahrscheinlich zu spät.

Titz vermisst einen Torjäger

22 weitere Treffer sind dem HSV in den 30 Spielen gelungen, seit sich Müller nach seinem Tor zum 1:0 gegen Augsburg bei seinem verhängnisvollen Jubel das Kreuzband riss. Keine Bundesliga-Mannschaft hat weniger Tore geschossen. In 16 Spielen blieben die Hamburger ohne Tor – so viele wie bei keinem anderen Team. Sollte der HSV am Ende der Saison erstmals in die Zweite Liga absteigen, liegt das – neben diversen außersportlichen Gründen – vor allem an der großen Sturmschwäche.

„Ja, das ist leider so“, sagte Trainer Christian Titz nach dem 0:2 gegen Hoffenheim angesprochen auf die Frage, ob es schade sei, dass er keinen Stürmer habe, der regelmäßig treffe. Nach einer kurzen Gedankenpause ergänzte Titz: „Wir versuchen die Spieler, die da sind, bestmöglich einzustellen, damit wir mit ihnen Erfolg haben.“ Doch an dieser Aufgabe sind bereits seine Vorgänger Bernd Hollerbach und Markus Gisdol verzweifelt.

Schon zehn Sturmformationen getestet

Insgesamt zehn verschiedene Sturmformationen haben die drei Trainer in dieser Saison bereits ausprobiert – funktioniert hat kaum eine. Bobby Wood, André Hahn, Fiete Arp, Filip Kostic, Bakery Jatta, Sven Schipplock, Luca Waldschmidt und zuletzt Aaron Hunt spielten mal alleine, mal zu zweit in der vordersten Reihe. Zuletzt beorderte Titz den Mittelfeldmann Hunt in den Sturm. Beim 3:2 gegen Schalke funktionierte die Idee im Wechselspiel mit Waldschmidt noch gut, in Hoffenheim verpuffte der Effekt. Hunt blieb ohne einen Torschuss.

Die größte Enttäuschung der Saison aber bleibt US-Stürmer Bobby Wood, den Titz zuletzt sogar zweimal nicht für den Kader nominierte. Im Training wirkt Wood seit Wochen mitunter teilnahmslos. Am Sonntag führte Co-Trainer Soner Uysal nach der Einheit der Reservisten mit dem 25-Jährigen ein Einzelgespräch. Wood schaute dabei fast ausschließlich zu Boden. „Es ist schade, weil ich ihn für einen sehr interessanten Spieler halte“, sagte Titz. „Er bringt vieles mit. Geschwindigkeit, Ballbehauptung auf engem Raum. Leider ist es so, dass es andere im Moment besser machen. Aber das heißt nicht, dass er uns nicht noch helfen könnte.“

Wood zog sich in der Hinrunde zurück

Vereinsintern wird davon berichtet, wie der introvertierte Stürmer schon in der Hinrunde schmollte, sich zurückzog und beleidigt wirkte, weil er die öffentliche Kritik nicht vertrug. Insgesamt konnte der Nationalspieler mit seiner neuen Rolle als Topverdiener und Schlüsselspieler nicht umgehen.

Obwohl es nie ein konkretes Angebot gab, hatte der HSV im Sommer mit Wood verlängert, sein Gehalt verdoppelt und stattdessen Michael Gregoritsch für 5,5 Millionen Euro an den FC Augsburg verkauft. Eine Fehleinschätzung vor allem von Trainer Gisdol, der Wood unbedingt halten wollte. In Augsburg hat Gregoritsch mit elf Treffern bereits mehr Tore erzielt als alle etatmäßigen HSV-Stürmer zusammen. Ligaweit gibt Gregoritsch nach Robert Lewandowski die meisten Torschüsse ab.

Todt hatte zwei Stürmer an der Angel

Im Winter wollte Gisdols Nachfolger Hollerbach dann im Sturm nachbessern. Der inzwischen ebenfalls beurlaubte Sportchef Jens Todt hatte sich mit dem Serben Aleksandar Mitrovic (23) von Newcastle United sowie dem Polen Lukasz Teodorczyk (26) von RSC Anderlecht mit zwei Kandidaten über einen Transfer verständigt, der mit dem Verkauf von Luca Waldschmidt an den SC Freiburg refinanziert worden wäre. Doch im Aufsichtsrat bekam Todt keine Zustimmung.

Wood fand auch in der Rückrunde nicht wieder zu seiner Form und Sturmtalent Fiete Arp fiel in ein Leistungsloch. Der Abiturient war mit der Doppelbelastung aus Schule und Bundes­liga, dem Rummel um seine Person und den Erwartungen überfordert. „Ich kann den HSV nicht alleine retten“, sagte Arp im Januar zu seinem 18. Geburtstag. Und sollte recht behalten.

Topschütze mit vier Treffern

So ist Flügelstürmer Filip Kostic mit fünf Treffern der erfolgreichste Schütze beim HSV. In keiner anderen Mannschaft der Bundesliga hat der teaminterne Toptorjäger so selten getroffen. Ein Problem, das nicht neu ist im Volkspark. Im Vorjahr reichten Wood, Gregoritsch und Müller jeweils fünf Tore zum internen Bestwert. Vor drei Jahren waren Pierre-Michel Lasogga und Rafael van der Vaart sogar mit vier Treffern Torschützen-„Könige“ im Team. Der HSV rettete sich mit 25 geschossenen Toren in die Relegation. Nie zuvor in 55 Jahren Bundesliga reichte diese Ausbeute zum Klassenerhalt.

Aktuell steht der HSV bei 23 Toren und 22 Punkten und hat trotzdem noch theoretische Chancen auf den Klassenerhalt – auch wenn sie nur noch minimal sind. Nicht auszudenken, wo der Club in der Tabelle stehen würde, hätte sich Nicolai Müller nicht gleich am ersten Spieltag das Kreuzband gerissen. Doch diese Ausrede wäre zu einfach. Chancen, Müller zu ersetzen und Spiele auch ohne ihn zu gewinnen, hat der HSV in dieser Saison genügend gehabt.