Hamburg/Stuttgart. Der neue HSV-Trainer sortiert aus, holt Gescheiterte zurück und setzt auf Talente. Kann das gut gehen?

Am Ostermontag hatte Christian Titz genug gesagt, getan, erklärt. Kein Training und keine Teambesprechung mehr am Morgen, keine Presserunde am Mittag und keine Gegnerbeobachtung am Nachmittag. Nicht mal ein kleiner Besuch im Fernsehstudio am Abend. All das hatte der HSV-Trainer schließlich schon am Ostersonntag, ganz nebenbei sein 47. Geburtstag, erledigt. Deswegen ließ Titz am Montag sein Handy zunächst aus und machte das, was er seit seiner Beförderung zum Interims-Cheftrainer beim HSV vor drei Wochen nicht mehr getan hatte: einfach mal abschalten.

Am Tag nach dem 1:1 in Stuttgart war für Titz an Entspannung noch nicht zu denken. Der Coach sprach über den immer aussichtsloseren Abstiegskampf („Wir sind in einer Situation, in der uns nur drei Punkte weiterbringen“), über seine waghalsige Entscheidung, beim 1:1 gegen den VfB gleich auf drei U-21-Spieler zu setzen („Die Entscheidung für die Spieler hat sportliche Gründe“) und sein Gefühl der Bestätigung („Die Spiele zeigen, dass die Mannschaft das kann“). Nur die entscheidende Frage wurde weder gestellt noch beantwortet: Kann all das auch langfristig gut gehen?

20 Tage nach der Entscheidung, vorerst bis Saisonende auf Trainer Titz zu setzen, gehen die Meinungen über die Maßnahmen des einstigen U-21-Coach krass auseinander. Die einen loben den erfrischenden Mut des gebürtigen Mannheimers und preisen den neuen Stil, den seine Mannschaft zu- ­mindest in Ansätzen gegen Berlin (1:2) und auch in Stuttgart (1:1) gezeigt hat. Die anderen echauffieren sich über Titz’ mutmaßlichen Aktionismus und werfen dem Erstliga-Debütanten Selbstüberschätzung und Doppelmoral vor.

Muss Titz das System nach der Mannschaft ausrichten?

In den drei Wochen als HSV-Trainer hat Titz tatsächlich jede Menge dafür getan, um sowohl die eine als auch die andere Seite mit Munition zu füttern. Der Überzeugungstäter hat radikal aussortiert, Mergim Mavraj und Walace zur U21 geschickt, Kyriakos Papadopoulos degradiert, Dennis Diekmeier, Sejad Salihovic sowie Sven Schipplock nicht mehr nominiert. Dafür hat der gleichermaßen Gelobte und Getadelte die gescheiterten Matti Steinmann und Mohamed Gouaida von null auf hundert in die Startelf befördert, den ausgestoßenen Lewis Holtby reaktiviert und auf die U-21-Talente Stephan Ambrosius, Young-Jae Seo sowie Tatsuya Ito gesetzt.

„Wenn man in eine Situation hereinkommt, in der man so abgeschlagen ist wie wir, sollte man auch Dinge verändern“, erklärte Titz am Ostersonntag seine Radikalreform. „Wir wollten neue Impulse in die Mannschaft bringen: Mehr Ballbesitz, höher verteidigen, höher stehen.“ Dabei hätten sich vor allem die jungen Spieler in den Trainingseinheiten angeboten. „Natürlich war es sehr vorteilhaft, einige Spieler aus der U21, die ich schon kannte, in die Gruppe reinzubringen“, sagte Titz.

Kommentar: Für den HSV geht es jetzt darum, die Fans zu gewinnen

Doch der Unterschied zwischen kühn und tollkühn sind eben nur vier Buchstaben. Titz wird offen gelobt (André Hahn: „Der Trainer hat einen klaren Plan und eine klare Taktik, die er umsetzen möchte“) und hinter vorgehaltener Hand stark kritisiert. Der nicht öffentlich ausgesprochene Hauptvorwurf: Ein guter Trainer würde sein System nach der Mannschaft richten und nicht die Mannschaft nach dem System ausrichten. Trainer Titz relativiert: „Die Spiele haben gezeigt, dass die Mannschaft die Spielidee umsetzen kann.“

Titz sieht viel Potenzial bei HSV-Youngstern

Auch dem naheliegenden Gedanken, dass bei sieben Punkten Rückstand auf einen Relegationsplatz das Experiment Zweite Liga bereits jetzt in Echtzeit gewagt wird, kann Titz nichts abgewinnen. „Solche Gedanken spielen in meinem Kopf keine Rolle. Ich treffe nur Situationsentscheidungen aus Überzeugung und nicht, weil ich etwas experimentieren will.“ Das Risiko, durch den Radikalkurs Schiffbruch zu erleiden, gehe er bewusst ein. „Wir sind in einer Situation, in der wir nicht viel zu verlieren haben – die Chance überwiegt.“

In Stuttgart ließ Titz den 19 Jahre alten Ambrosius gegen Nationalstürmer Mario Gomez debütieren, der gerade erst im Probetraining in Dänemark durchgefallene Gouaida durfte erstmals seit mehr als drei Jahren wieder in der Bundesliga auflaufen und der schon 23 Jahre alte Steinmann, der in Hamburg Mathe und Erdkunde auf Lehramt studieren wollte, ist plötzlich als zentraler Verbindungsspieler vor der Abwehr gesetzt.

HSV holt in Stuttgart den sechsten Auswärtspunkt

Die Leidenszeit ist noch nicht vorbei: HSV-Profi Aaron Hunt im Stuttgarter Nahkampf am Ostersonnabend
Die Leidenszeit ist noch nicht vorbei: HSV-Profi Aaron Hunt im Stuttgarter Nahkampf am Ostersonnabend © Reuters
Am Ende mussten sich die Hamburger im Schwabenland mit einem 1:1 begnügen
Am Ende mussten sich die Hamburger im Schwabenland mit einem 1:1 begnügen © Reuters
Kleiner Mann ganz groß: Lewis Holtby brachte den HSV in Stuttgart in Führung
Kleiner Mann ganz groß: Lewis Holtby brachte den HSV in Stuttgart in Führung © Reuters
In der 18. Minute stocherte der Mittelfeldspieler einen Nachschuss ins Tor
In der 18. Minute stocherte der Mittelfeldspieler einen Nachschuss ins Tor © Reuters
VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler hatte einen Schuss von Luca Waldschmidt nicht festhalten können
VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler hatte einen Schuss von Luca Waldschmidt nicht festhalten können © Reuters
In der 44. Minute konnte auch Pollersbeck einen Ball nicht festhalten
In der 44. Minute konnte auch Pollersbeck einen Ball nicht festhalten © Reuters
Der ehemalige St. Paulianer Daniel Ginczek sagte Danke und staubte zum Ausgleich ab
Der ehemalige St. Paulianer Daniel Ginczek sagte Danke und staubte zum Ausgleich ab © Reuters
Zuvor hatte Debütant Stephan Ambrosius (r.) einen Ball im Strafraum vor die Füße von Vorbereiter Erik Thommy geklärt
Zuvor hatte Debütant Stephan Ambrosius (r.) einen Ball im Strafraum vor die Füße von Vorbereiter Erik Thommy geklärt © Reuters
Nicht nur Matti Steinmann wollte am liebsten alles ungeschehen machen
Nicht nur Matti Steinmann wollte am liebsten alles ungeschehen machen © Witters
Der HSV am Boden? Aber nicht doch: Douglas Santos im Zweikampf mit Stuttgarts Kapitän Christian Gentner
Der HSV am Boden? Aber nicht doch: Douglas Santos im Zweikampf mit Stuttgarts Kapitän Christian Gentner © Reuters
In dieser Szene hatte Arron Hunt allerdings das Nachsehen gegenüber Benjamin Pavard
In dieser Szene hatte Arron Hunt allerdings das Nachsehen gegenüber Benjamin Pavard © Reuters
Szenen wie im Hochsommer: In der ersten Hälfte gab es für die Profis eine Trinkpause
Szenen wie im Hochsommer: In der ersten Hälfte gab es für die Profis eine Trinkpause © Witters
Auch die HSV-Fans waren heiß – brachten dies aber nicht immer mit erlaubten Mitteln zum Ausdruck
Auch die HSV-Fans waren heiß – brachten dies aber nicht immer mit erlaubten Mitteln zum Ausdruck © Imago/Jan Hübner
Lockerungsübungen vor dem Bundesliga-Debüt: Stephan Ambrosius in der Mercedes-Benz-Arena, festgehalten auch von Verteidigerkollege Rick van Drongelen
Lockerungsübungen vor dem Bundesliga-Debüt: Stephan Ambrosius in der Mercedes-Benz-Arena, festgehalten auch von Verteidigerkollege Rick van Drongelen © Witters
Luca Waldschmidt durfte als STurmspitze ebenfalls von Beginn an mitwirken
Luca Waldschmidt durfte als STurmspitze ebenfalls von Beginn an mitwirken © Witters
Christian Titz ließ seine Mannschaft wieder im 4-1-4-1-System spielen
Christian Titz ließ seine Mannschaft wieder im 4-1-4-1-System spielen © Reuters
"Wir haben nichts mehr zu verlieren", sagte der HSV-Cheftrainer vor seinem ersten Auswärtsspiel © Imago/Jan Hübner
Entsprechend locker gab sich Titz vor dem Anpfiff im Gespräch mit seinem Stuttgarter Kollegen Tayfun Korkut
Entsprechend locker gab sich Titz vor dem Anpfiff im Gespräch mit seinem Stuttgarter Kollegen Tayfun Korkut © Imago/Eibner
Für HSV-Kapitän Gotoku Sakai war es eine Rückkehr an alte Wirkungsstätte
Für HSV-Kapitän Gotoku Sakai war es eine Rückkehr an alte Wirkungsstätte © Witters
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„Es ist meine Überzeugung, dass es viele junge Spieler beim HSV gibt, die Potenzial haben, höher zu spielen. Oftmals bedarf es einer Chance für einen jungen Spieler“, sagt Titz, der seinen Kurs fortsetzen will. „Ich sehe keine Namen, sondern Menschen vor mir. Es gibt nicht jung oder alt, sondern es zählt nur die Leistung. Das Gehalt, der Marktwert oder die Ablöse dürfen in der Bewertung der Spieler keine Rolle spielen.“

Hoffmann sieht Titz als Übergangslösung

Das Titz-Experiment geht weiter, doch wie lange wagt der HSV das Experiment Titz?

Geht es nach Sportdirektor Bernhard Peters, ist die Antwort überraschend klar: „Frank Wettstein und ich sind von ihm total überzeugt – in seiner Arbeitsweise, in seinem Fleiß, in seiner Kompetenz. Und deswegen ist er für uns der Richtige“, antwortete Peters im NDR-„Sportclub“ auf die Frage, ob er sich vorstellen kann, mit dem Radikalreformer auch in die Zweite Liga zu gehen.

Der Haken an der Geschichte: Möglicherweise geht es gar nicht nach Peters und Wettstein. Präsident und Aufsichtsratschef Bernd Hoffmann soll dem Vernehmen nach noch nicht ganz so euphorisch sein. Intern spricht Hoffmann auch weiterhin von „einer Übergangs­lösung bis zum 12. Mai“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Und Titz? Der Trainer machte am Montagnachmittag doch wieder sein Handy an. Da seine Familie bei den Schwiegereltern in Aachen sei, habe er sich mal ein paar Stunden mehr Schlaf gegönnt, sagte der Coach. Und seine Zukunft beim HSV? „Ich will immer das Maximum erreichen.“ Nicht mehr – aber auf keinen Fall weniger.