Hamburg. Nach dem gescheiterten Wunder von Bernd soll nun Christian Titz das Unmögliche möglich machen. Das Porträt eines Aufbauhelfers.

Der Applaus ist zunächst zaghaft, wird mit jedem Schritt aber lauter. „Herr Titz, Sie werden es schaffen“, schmettert einer dem neuen HSV-Trainer entgegen. Der kommt um 10.12 Uhr am Dienstagmorgen als letzter die Treppe vom Stadion zum Trainingsplatz herunter. Langsam. Schritt für Schritt. Als Christian Titz unten angekommen ist, gemeint ist die Treppe, nicht der HSV, ist der Applaus am lautesten. Und wieder ruft der Fan: „Sie schaffen es.“ Und noch mal: „Sie werden das schaffen.“

Das, was Christian Titz schaffen soll, wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Sensation. Nach dem gescheiterten „Wunder von Bernd“ von Vorgänger Hollerbach soll nun also „ein Nobody“ („Mopo“) das Unmögliche möglich machen: den Klassenerhalt. „Natürlich ist das eine unglaublich schwierige Aufgabe“, sagt der 46 Jahre alte Fußballlehrer. „Auch ich kann die Tabelle lesen.“

Titz mit „Faible für Himmelfahrtskommandos“

Die kann auch André Kilian lesen. „Christian hat ein Faible für Himmelfahrtskommandos“, sagt der 40-Jährige und lacht. Der Co-Trainer vom FC Homburg und Titz kennen und schätzen sich seit Jahren. Kilian war ein sogenanntes Supertalent, holte mit Manuel Neuer den DFB-Junioren-Vereinspokal und gewann an der Seite von Mesut Özil und Benedikt Höwedes die A-Junioren-Meisterschaft. Doch so rasant es nach oben ging, so ging es irgendwann auch wieder nach unten – bis sich Titz und Kilian 2010 über den Weg liefen. „Christian hat eine besondere Gabe“, sagt Kilian, der 2012 unter Titz mit dem FC Homburg aus der Oberliga in der Regionalliga aufstieg. „Er kann eine Mannschaft aus dem Nichts neu aufbauen.“

Titz’ Neuaufbau-HSV dauert am Dienstag 113 Minuten (vormittags) und 50 Minuten (nachmittags). Insgesamt 33 Fußballer sind bei den zwei Einheiten dabei, darunter fünf U-21-Talente (Steinmann, Gouaida, Seo, Kwarteng und Ferati) und ein U-19-Neuling (Drawz). Der gebürtige Mannheimer nutzt drei Trainingsplätze und einen Flipchart als ständigen Begleiter. „Christian hat einen genauen Plan“, sagt Kilian. „Er will nichts dem Zufall überlassen.“

Autor von mehr als 50 Fußball-Fachbüchern

Alles andere als zufällig ist auch Titz’ verspätete Beförderung zum Bundesligatrainer. Bereits nach Joe Zinnbauers Beurlaubung (2015) und nach Markus Gisdols Entlassung (im Februar) war der Autor von mehr als 50 Fußballfachbüchern mit den HSV-Verantwort­lichen im Gespräch.

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„Ich beschäftige mich nicht mit der Vergangenheit“, sagt Titz, als er zwischen den Trainingseinheiten im ersten Stock des Volksparkstadions öffentlich vorgestellt wird. Elf Kamerateams, Blitzlichtgewitter, der wöchentliche HSV-Wahnsinn. „Meine ganze Energie gilt nur der Mannschaft und dem Spiel gegen Hertha“, sagt der Hollerbach-Nachfolger, der zuletzt mit HSV II gegen VfL Wolfsburg II vor 382 Zuschauern spielte.

Neutrainer Titz macht ein Casting für den Hertha-Kader

Doch Regionalliga war gestern, die Bundesliga ist morgen. „Zunächst einmal wollen wir den Konkurrenzkampf anheizen“, sagt Titz, als er erklären soll, warum gleich 33 Spieler beim Training dabei sind. „Bis zum Ende der Woche werden wir den Kader auf eine normale Größe von 22 Profis reduzieren“, sagt er. Die einen bereiten sich auf Hertha vor, die anderen werden auf dem Nebenplatz in einer Kleingruppe trainiert. Sicher ist: Es wird harte Entscheidungen geben.

Die gab es auch bei Titz’ erster richtigen Trainerstation 2009 bei Viktoria Köln. „Wir kamen im Sommer und standen vor dem Nichts“, erinnert sich Sebastian Stache, der gemeinsam mit Titz als Co-Trainer gleichzeitig die U19 und die erste Mannschaft von Viktoria übernahm. Ein Torwart und zwei Verteidiger seien noch dagewesen, als die beiden anfingen. Ähnlich wie jetzt auch beim HSV organisierten Titz und Stache ein Casting, baten 80 Spieler zum Training und sortierten aus. Am nächsten Tag kamen noch 40 Fußballer, wieder wurde aussortiert. „Und am dritten Tag hatten wir eine Mannschaft“, sagt Stache. „Zwei unserer Jungs haben es sogar in die Jugendnationalmannschaft geschafft.“

“Wir setzen alles auf null“

Titz’ unkonventionelle Methoden sprachen sich rum. „Ich hatte schnell gehört, dass dieser Titz einige talentierte Burschen gehabt haben soll“, sagt Spielerberater Marcus Noack, der sich beim Training selbst davon überzeugen wollte, ob nicht der eine oder andere Fußballer für seine Agentur dabei sein könnte. „Ich fuhr wegen der Spieler dahin“, erinnert sich Noack, „und ich bin dann beim Trainer hängen geblieben.“

Acht Jahre ist das her – und seit acht Jahren berät Noack Trainer Titz. Ob der Familienvater aber auch gut beraten war, sich das Himmelfahrtskommando HSV anzutun, wird man wohl am Sonnabend gegen Hertha überprüfen können. „Wir setzen alles auf null“, sagt Titz. „Was war, zählt jetzt nicht mehr.“

Im Training überrascht Titz – mit Fußball

Im Training überraschte der gelernte Verwaltungsfachangestellte mit HSV-untypischem Fußball, oder besser gesagt: mit Fußball. Titz forderte den geordneten Spielaufbau von hinten und verbot gisdolsche Befreiungsschläge nach vorne. „Wir wollen mehr Ballbesitz schaffen, das Spiel selbst in die Hand nehmen“, erklärt Titz später. „Wir haben das Potenzial, um ins schnelle Umschaltspiel zu kommen. Wir wollen den Gegner in Räume locken, in denen wir zu Ballbesitz kommen“, sagt Titz, der seine Spielidee als eine Art Mischung aus Gisdol- und Hollerbach-Fußball beschreibt. Als das zweite Training vorbei ist, gibt es noch einmal höflichen Applaus. „Ihr haut die Hertha weg“, sagt ein Fan.

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In Berlin sieht man das natürlich ein wenig anders. Vom neuen HSV-Kollegen erwartet Hertha-Trainer Pal Dardai „ein neues System und eine neue Spiel-Philosophie“, aber Sorgen mache er sich nicht. „Jugend-Fußball ist Jugend-Fußball und Männer-Fußball ist Männer-Fußball“, sagt Dardai in Anspielung auf Titz’ jüngere Vergangenheit als U-21- und als U-17-Trainer. Dabei hat Dardai gut reden. Nicht einmal anderthalb Jahre ist es her, als er das letzte Mal gegen einen HSV-Debüttrainer antreten musste. Der Letzte-Chance-Trainer damals: Markus Gisdol. Das Ergebnis: 2:0 für Hertha. Der Rest der Geschichte – ist bekannt. Und nun? Vorhang auf für: den Aller-aller-aller-letzte-Chance-Trainer.