Hamburg. Nach sechs Spielen ohne Sieg wollte der HSV gegen den Meister die Wende einleiten. Doch ein Foul machte den Plan zunichte.

Sie hatten alles hineingelegt, was man von einer Mannschaft im Abstiegskampf erwarten darf: Kampf, Leidenschaft, taktische Disziplin. Und doch hat das 105. Nord-Süd-Duell der Bundesliga im ausverkauften Hamburger Volksparkstadion das Ende genommen, das man erwarten durfte: Die Jupp-Heynckes-erneuerten Bayern haben es mit 1:0 (0:0) gewonnen und damit nach Punkten mit Tabellenführer Borussia Dortmund gleichgezogen. Und der HSV hat seine schwarze Serie auf sieben Spiele ohne Sieg verlängert. So weit, so normal.

Das Spielgeschehen zum Nachlesen:

Und doch fehlte gar nicht so viel, und das Spiel hätte ganz anders verlaufen können. "Der HSV war kämpferisch überragend", sagte der neue Bayern-Trainer Jupp Heynckes am Sky-Mikrofon, "wir haben uns vor allem in der ersten Hälfte sehr schwergetan." Und vielleicht wäre es bis zum Schluss so geblieben, wäre da nicht diese Szene in der 39. Minute gewesen. Aber dazu später mehr.

Eine schlechte Nachricht hatte schon vor dem Anpfiff den taktischen Plan von Trainer Markus Gisdol durchkreuzt: Albin Ekdal meldete sich mit Rückenproblemen ab – zum wievielten Mal eigentlich? Als wäre der Ausfall von Vasilije Janjicic (Gürtelrose) nicht schon Schwächung genug für das defensive Mittelfeld gewesen!

Dass auch Offensivmann Sejad Salihovic nicht würde mitwirken können, darauf hatte sich Gisdol schon seit Dienstag einstellen können, als der Bosnier im Training einen Schlag gegen den Knöchel abbekommen hatte. Nicolai Müller steht nach seinem Kreuzbandriss ohnehin erst im neuen Jahr wieder zur Verfügung. Und Nachwuchsstürmer Jann-Fiete Arp kämpft am Sonntag mit der U-17-Nationalmannschaft um den Einzug ins WM-Halbfinale.

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Ito und Kostic zunächst auf der Bank

Bakery Jatta schaffte es trotz der vielen Ausfälle wie schon in Mainz nicht in Gisdols Kader, der 19-Jährige soll stattdessen der U21 am Sonntag gegen Oldenburg dabei helfen, die Tabellenführung in der Regionalliga auszubauen. Überraschend standen auch weder Tatsuya Ito noch Filip Kostic in der Startelf. Stattdessen setzte Gisdol auf einen Fünferriegel in der Abwehr. Eine entsprechende Andeutung hatte er bereits am Donnerstag gemacht. Eine Chance bekam dadurch der zuletzt in Ungnade gefallene Linksverteidiger Douglas Santos, es war erst sein dritter Einsatz in der Saison.

Gisdol stellte allerdings vor dem Spiel klar, dass die taktische Ausrichtung nicht nur defensiv war: "Wenn du nur hinten drinstehst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis du ein Tor kassierst." Deshalb sei es wichtig, dass die beiden HSV-Spitzen Bobby Wood und André Hahn Druck auf die Innenverteidigung der Bayern ausübten.

Die Bayern kamen mit neuem Elan in den Norden, denn in den ersten beiden Partien unter Trainer-Rückkehrer Jupp Heynckes gab es in der Liga (5:0 gegen den SC Freiburg) und in der Champions League (3:0 gegen Celtic Glasgow) zwei Siege. Mitten im erlesenen Kader fand sich auch ein waschechter Hamburger. Kwasi Okyere Wriedt, beim FC St. Pauli 2015 nach sechs Jahren für nicht gut genug befunden, durfte wie schon gegen Freiburg inmitten der Stars auf der Bank Platz nehmen und auf sein Bundesligadebüt hoffen.

Nur eine Bayern-Torchance in 45 Minuten

Warum auch nicht? Heynckes setzt offenbar auf das Rotationsprinzip. Im Vergleich zum Glasgow-Spiel veränderte er seine Startelf gleich auf fünf Positionen. Niklas Süle, James Rodríguez, Rafinha, Arturo Vidal und Corentin Tolisso dürfen sich für kommende Aufgaben empfehlen. Aber womöglich hat Heynckes damit seine Rotation überdreht.

Denn die Bayern fanden überhaupt nicht ins Spiel. Was natürlich auch am Gegner lag. Der HSV verlegte sich keineswegs aufs Verteidigen, sondern setzte Gisdols Marschroute konsequent um und lief die Bayern schon tief in deren Hälfte an. Mit Erfolg: Ein erster Hahn-Schuss landete allerdings in den Armen von Bayern-Torwart Sven Ulreich (3. Minute). Bis zum ersten Abschluss der Bayern sollten 20 Minuten verstreichen: Arjen Robbens Schuss landete am Außennetz.

Es würde die einzige Torchance der Bayern in der ersten Halbzeit bleiben. Denn der HSV setzte ihrer individuellen Qualität seine kollektive entgegen, die ihm in der Vorsaison den Klassenerhalt gesichert hatte: Leidenschaft pur. Es hätte in der 33. Minute fast zum Erfolg geführt: Nach einer Nachlässigkeit in der Bayern-Abwehr setzte Gideon Jung nach, doch die anschließende Kopfballstafette führte nicht zum Torerfolg.

Jung sieht Rot

Jung sollte wenig später allerdings negativ auffallen. Aus einem HSV-Eckball, es war bereits der dritte, resultierte ein Bayern-Konter. Gegen Topsprinter Kingsley Coman wusste sich Jung nicht anders zu helfen, als dem Franzosen in die Beine zu grätschen. Die gesamte Bayern-Abwehr forderte Rot – und Schiedsrichter Marco Fritz erfüllte den Wunsch (39.). Eine harte, aufgrund der Verletzungsgefahr aber vertretbare Entscheidung. Das räumte auch Jung selbst später großmütig ein: "Ich bin auf den Ball gegangen und treffe ihn hart. Aber der Ball war in der Nähe, und ich grätsche nicht von hinten. Über Rot kann man sich wohl streiten. Eine 50:50-Entscheidung."

Sie veränderte erwartungsgemäß die Balance der Partie. "Danach war es ein Spiel unter besonderen Vorzeichen", sagte Gisdol, "ich habe schon deutlich härtere Szenen gesehen, die nicht mit Rot geahndet wurden." Für U-21-Europameister Jung war es die erste gewesen – in dieser Saison hatte er noch nicht einmal Gelb gesehen. Aaron Hunt nahm fortan seine Position im defensiven Mittelfeld ein, was den Bayern im Spielaufbau mehr Platz ließ. Doch bis zur Pause wusste der Meister damit nichts anzufangen.

Tolisso trifft zum Sieg

Das änderte sich allerdings nach Wiederbeginn – und könnte damit zu tun haben, dass Heynckes anstelle des neben sich stehenden WM-Torschützenkönigs James Rodríguez dessen Vorgänger Thomas Müller ins Spiel brachte. Einen Schuss von Arturo Vidal konnte HSV-Innenverteidiger Kyriakos Papadopoulos noch ins Toraus abfälschen (48.).

Vier Minuten später war dann das längst Erwartete passiert: HSV-Verteidiger Mergim Mavraj schlug nach einer Flanke von David Alaba ein Luftloch. Müller leitete den Ball zu Rekordverpflichtung Corentin Tolisso weiter, der aus kurzer Distanz sein zweites Tor für die Bayern erzielen konnte. "Ich hätte die Situation bereinigen können", räumte Mavraj später selbstkritisch ein.

Müller verletzt raus

Ein bitterer Treffer – nicht nur für den HSV, denn es sollte Müllers letzte Aktion bleiben. Der eigentlich unverwüstliche Weltmeister musste mit einer Verletzung im rechten Oberschenkel vom Feld. Eine MRT-Untersuchung in München soll am Sonntag Aufschluss bringen. Für Müller kam Thiago (55.).

Die kurze Phase, in der auch die Bayern nur zu zehnt waren, hätte der HSV beinahe zum Ausgleich genutzt. Kapitän Gotoku Sakai zog von rechts in den Strafraum und wurde von Süle mit maximalem Risiko abgegrätscht, Hahns Nachschuss konnte Ulreich gerade so über die Latte lenken (53.).

Bayern trifft zweimal den Pfosten

Nach einer Stunde erhöhte Gisdol das Risiko und brachte Lewis Holtby für Hunt. Doch das 0:2 lag nun näher. Erst verhinderte es der viel gescholtene HSV-Torhüter Christian Mathenia, indem er sich vor dem einschussbereiten Tolisso beherzt in eine Robben-Flanke warf. Und nach dem anschließenden Eckball dann der Pfosten, gegen den ein Thiago-Schuss klatschte (70.).

Eine Viertelstunde vor Schluss löste Gisdol seine letzten Optionen ein und die Fünferkette auf: Für Verteidiger Rick van Drongelen und Stürmer André Hahn kamen die Flügelspieler Tatsuya Ito und Filip Kostic ins Spiel. Doch bevor es für die Bayern ansatzweise gefährlich wurde, hätten sie das Spiel binnen weniger Minuten gleich dreimal entscheiden könnten: Erst strich Mats Hummels‘ Kopfball knapp am HSV-Tor vorbei, dann rettete Mathenia gegen den allein auf ihn zustürmenden Robben, und schließlich traf per Kopf auch Tolisso nur den Pfosten (84.).

Wende in Berlin?

Ein Sieg mit fünf Toren Unterschied hätte den Bayern sogar unverhofft die Tabellenführung beschert, und man hätte es vor dem Spiel vielleicht für möglich halten können. Wie allerdings wenig später Robben aus kurzer Distanz verzog, war fast schon fahrlässig (88.). In der Nachspielzeit streichelte dann noch Lewandowskis Hackenschuss den Außenpfosten. Und so blieb es bis zuletzt verdammt laut im Volksparkstadion, die Fans gaben noch einmal alles, die Spieler sowieso. Gisdol sagte: "Die Mannschaft hat alles herausgeholt, was möglich war." Aber es nutzte nichts mehr.

Es blieb die Erkenntnis, dass der HSV mit dieser Einstellung am nächsten Sonnabend in Berlin, spätestens aber am 4. November gegen den VfB Stuttgart die Wende schaffen kann. "Wir werden auch wieder unsere Punkte machen", sagte Gisdol, "die Mannschaft hat vieles gut gemacht. Wir können auf die Leistung aufbauen.“ Da wird ihm wohl niemand widersprechen.