Der Pokaltriumph 1977 war für den Hamburger SV der Auftakt vieler weiterer Erfolge. Doch für den Mann dahinter kam alles anders.
Peter Krohn hatte eine Marotte. Bei großen Auswärtsspielen besuchte der Manager des HSV regelmäßig am Vortag das Stadion des Gegners. So auch am 10. Mai 1977. Der 45-Jährige verschaffte sich in Amsterdam Zugang zur Arena und schritt versonnen über den Rasen. Hier also sollte der HSV, sein HSV, den größten Erfolg der Vereinsgeschichte perfekt machen und mit dem Europapokal der Pokalsieger gegen den RSC Anderlecht den ersten internationalen Titel gewinnen.
Es dauerte nicht lange, bis Krohn vom Stadionchef entdeckt wurde. „Sie habe ich schon am Rothenbaum als Torwart spielen sehen“, wusste Krohn, der selbst in der Jugend für den HSV zwischen den Pfosten gestanden hatte, sofort. Das Eis war gebrochen, und als Krohn erfuhr, in welcher Stadionkabine sich die damals überragende Mannschaft von Ajax Amsterdam vor den Heimspielen umzog, sorgte er mit seinem wortreichen Charme dafür, dass auch der HSV am Finaltag dort unterkam. Mehr als sonst galt es, nichts dem Zufall zu überlassen. Das Ende ist allen HSV-Anhängern noch bestens bekannt. 2:0 siegten die Hamburger gegen Anderlecht, die späten Tore erzielten Georg Volkert (82., Elfmeter) und Felix Magath (90.).
Krohn hat ein Elefantengedächtnis
„Eigentlich bin ich kein abergläubischer Mensch, aber vielleicht hat uns das ein wenig Glück gebracht“, lächelt Krohn, der die Kabinenepisode so lebendig erzählt, als sei das Spiel erst 40 Tage her und nicht 40 Jahre. Zwar kämpft der 85-jährige Ruheständler mit Altersbeschwerden – die Beine sind nicht mehr so flink wie seine Zunge –, doch rhetorisches Talent und das Elefantengedächtnis sind dem Hamburger geblieben.
Als Treffpunkt hat Krohn die Trattoria Mama in der Winterhuder Gertigstraße gewählt. Doch zum Essen kommt er kaum. Die Fragen nach dem Europacup-Erfolg lassen die Erinnerungen wie in einem Film ablaufen, der vier Jahre vor dem Triumph gegen Anderlecht beginnt. Bei seiner Antrittsrede 1973 als damals ehrenamtlicher Präsident hatte Krohn forsch formuliert, den HSV an die Spitze führen zu wollen. Nicht nur national, auch in Europa.
„Das war keine Großmannssucht“
Eine mutige Aussage. Zehn Jahre lag damals der letzte nationale Titel im DFB-Pokal zurück, in der Bundesliga ging es nur ums Überleben. Zudem drückten den Club 3,4 Millionen Mark Schulden. „Das war keine Großmannssucht, sondern eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten des HSV mit diesem riesigen Einzugsgebiet“, sagt Krohn, der eine Funktionärskarriere von null auf 100 hinlegte. Der Dr. rer. pol., Dipl.-Kaufmann machte beim Springer-Verlag Karriere (Prokurist bei der „Welt“, Direktoriumsmitglied im Verlagshaus Hamburg), arbeitete dann als Geschäftsführer bei der Hannoverschen Druck- und Verlagsgesellschaft und Chefredakteur der „Hannoverschen Presse“. Dass sein Herz für den HSV schlug, lag in der Familie. Sein Vater Hans stand in jener Mannschaft, die 1923 den ersten HSV-Meistertitel erringen konnte.
Was aus den ersten Europacuphelden des HSV geworden ist
Und Krohn legte los. „Während meiner Amtszeit habe ich nicht einen Pfennig Kredit für Spielerkäufe aufgenommen“, sagte er nicht ohne Stolz. Sein erster finanzieller Coup: Im Januar 1974 verkaufte Krohn die HSV-Brust für zweieinhalb Jahre für 800.000 Mark an Campari. Nach Braunschweig (Jägermeister) war dies erst der zweite Sponsoren-Abschluss dieser Art in der Bundesliga. Da im Europacup Werbung verboten war, ließ Krohn 1977 die Endspielshirts mit „HSV“ beflocken. Dann wenigstens Eigenwerbung.
Krohn entwarf das pinke Trikot
Apropos Trikot – Krohn seufzt, und sein Blick sagt: War ja klar, dass wir über die rosaroten Trikots reden müssen. Ihn nervte es immer, wenn vor allem über seine Qualitäten als Vermarkter geschrieben wurde. „Ich habe viel mit Farben experimentiert“, sagt er dann doch, „Blau war meine Lieblingsfarbe. Aber das pinkfarbene Trikot habe ich 1977 für das Europacup-Finale ausgesucht, weil ich mir vorstellte, dass es unter Flutlicht besonders gut aussehen würde. Aber ich gebe zu: Ich habe lange gezögert, ob ich es riskieren soll.“ Diese Einfälle waren berühmt-berüchtigt. „Creation Pierre Krohn“ tauften Medien seine modischen Kompositionen für die Kicker.
Viel lieber spricht Krohn über den sportlichen Aufschwung: „Der Weg bis ins Finale war für mich keine Sensation, sondern das Resultat einer stetigen Entwicklung.“ Junge Spieler mit langfristigen Verträgen ausstatten, dazu erfahrene Kräfte für eine Übergangsphase verpflichten, damit die Talente wachsen können – ein Konzept wie aus dem (noch gültigen) Fußball-Lehrbuch.
Magath war der Königstransfer
Krohn profitierte auch davon, dass bereits Hochbegabte wie Rudi Kargus, Peter Hidien oder Manfred Kaltz und Caspar Memering für den HSV spielten. Aber er holte weitere dazu: So kamen Felix Magath – mit Sicherheit sein Königstransfer – von Zweitligist Saarbrücken und Willi Reimann von Hannover 96.
Die Folge: In den vier Jahren der Ära Krohn landete der HSV am Ende der Saison stets vor Bayern München, in dessen Team Stars wie Beckenbauer, Hoeneß und Müller standen. Nach der DFB-Pokalfinaleniederlage 1975 gegen Frankfurt holte der HSV 1976 den Pott gegen Kaiserslautern (2:0) – es war die Eintrittskarte für den Europapokal. Mit der Vizemeisterschaft durften die HSV-Fans die bislang beste Platzierung in der Bundesliga feiern. Schuldenfrei war der Club schon längst.
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Krohn überließ nichts dem Zufall
Krohns Gestaltungsdrang beinhaltete auch die Betreuung der Mannschaft. Er kümmerte sich um die Ernährung am Spieltag (Nudeln statt Steaks). Bei jeder Besprechung saß er mit am Tisch („Ich habe nicht das große Wort geführt, aber ich wusste Bescheid“). Die letzten aufmunternden Worte überließ Kuno Klötzer stets Krohn, der ab 1975 als bezahlter Generalmanager agierte.
Die häufig leidenschaftlichen Diskussionen zwischen Trainer und Manager über die richtige Aufstellung blieben nicht verborgen. Dass einige Auseinandersetzungen nach Niederlagen regelmäßig öffentlich in fremden Stadien ausgetragen wurden, hatte für Krohn System: „Die Haupteinnahmequelle waren Zuschauer, da gehörte das Trommeln dazu.“
Riesige Freude in der Nacht von Amsterdam
Und Krohn trommelte. Jahrzehnte bevor der Fußball zum Event mutierte, verstand es der Fußball-Unternehmer, den Sport zu inszenieren. Krohn veranstaltete Showtrainings inklusive Blaskapelle und erfand neue Wettbewerbe wie 1977 den Supercup (Spiel zwischen Meister und Pokalsieger), den der DFB erst viel später offiziell als Wettbewerb einführte. Mit der Aktion „Fans kaufen Stars“ sammelte er eine Mark pro Stehplatz und zwei Mark pro Sitzplatz, um neue Spieler bezahlen zu können. Am 11. Mai 1977 wurde all die Mühe belohnt. „Ich hatte gehalten, was ich versprochen hatte“. Ja, riesige Freude empfand Krohn in der Nacht von Amsterdam. Doch noch heute erinnert er sich, wie es in ihm rumorte. „Meine Gefühle waren zwiegespalten.“ Lechzend nach noch mehr Erfolg ging sein Blick sofort nach vorne.
Ein Weltstar sollte her, um den HSV in der Spitze zu etablieren. Krohn wusste, dass er nur vier Tage später nach London reisen würde, um über die Verpflichtung eines gewissen Kevin Keegan zu verhandeln, den er schließlich für 2,2 Millionen Mark Ablöse verpflichten konnte. „70, 80 Prozent dieser Summe konnte ich durch einen Galaabend und den neu gegründeten Hafenpokal (erster Gegner war Keegans Club FC Liverpool, d. Red.) hereinholen.“ Sein größter finanzieller Coup. Mit Ivan Buljan kam ein weiterer internationaler Star.
Mit Gutendorf lief es nicht
Jetzt, mit dem Sieg von Amsterdam im Rücken, war die nationale Meisterschaft das erklärte Ziel – mit neuem Trainer. Sowohl Krohn als auch Klötzer wollten die (anstrengende) Zusammenarbeit beenden, Rudi Gutendorf übernahm. Doch der Start in die Bundesliga misslang, und nach dem Aus in der zweiten Europacup-Runde (ausgerechnet gegen Anderlecht) musste nicht nur Gutendorf Ende Oktober wieder gehen. Auch Krohn kündigte, entnervt von den Streitigkeiten mit dem Präsidium. „Das Management muss wie in einem Wirtschaftsunternehmen mehr Kompetenzen haben, um sachorientierte personelle Entscheidungen treffen zu können“, hatte er vergeblich gefordert.
Krohn bereut seinen frühen HSV-Abschied
Ob er es heute bedauert, nicht länger beim HSV geblieben zu sein? Krohn nickt ehrlich. Wie sich später zeigte, hatte er mit seinem Team den Grundstein gelegt für die erfolgreichste Phase des HSV mit drei Meisterschaften (1979, 1982, 1983). Beim legendären Halbfinale des Landesmeisterpokals (heute Champions League) gegen Real Madrid 1980 (5:1) standen neun Krohn-Juwelen auf dem Platz. Drei Jahre später gelang der Sieg in der „Königsklasse“ gegen Juventus Turin.
Der HSV blieb Krohns einzige Station im Fußball. Bis 1997 arbeitete er erfolgreich als PR-Berater, ein Jahr später feierte er als Aufsichtsrat (bis 2001) ein Comeback beim HSV. Zwar stellte er nicht mehr die Mannschaft zusammen, in der Champions League spielte der HSV dennoch 2000 – das legendäre 4:4 gegen Juve ist unvergessen.
Krohn für seine MGV-Auftritte gefürchtet
Alles lange her, und wer Krohn zuhört, erkennt, dass er mit dem HSV im Reinen ist, auch wenn der Träger der „Nadel in Gold“, der höchsten Auszeichnung des Vereins, merklich Abstand gewonnen hat. 2014, als der Club die Ausgliederung beschloss, fehlte Krohn, der für seine Reden bei Mitgliederversammlungen gefürchtet war. Dass er dieses Thema stets mit einer hohen sportlichen Zielsetzung verbunden hat, ist bekannt. „Nur um im Mittelfeld zu stehen, dafür verkaufe ich nicht Teile des Vereins“, warnte Krohn schon vor Jahren.
Die Spiele des HSV hat er seit Jahren (gesundheitsbedingt) nicht mehr besucht. Es dürfte schmerzhaft genug sein, im Fernsehen das aktuelle Team in (seinen) pinkfarbenen Trikots herumstümpern zu sehen. Wie lautete immer Krohns Motto? „Verpackung kann man erst herausholen, wenn die Leistung stimmt.“