Trainer Markus Gisdol zieht kuriosen Schwangerschaftsvergleich zur Sieg-Taktik. HSV-Spieler erklären neuen Zusammenhalt.
Hamburg. Auch nach dem Schlusspfiff sollte es kein bisschen leiser werden im Hexenkessel Volksparkstadion. „Hey! Hey! Wer nicht hüpft, der ist ein Bremer – hey! Hey!“, sangen die HSV-Fans nach dem 2:1-Sieg gegen 1899 Hoffenheim und entledigten sich des letzten Winterspecks. Es folgte eine La Ola gemeinsam mit den Spielern. Und wieder hallte es „Hey! Hey!“ von den Rängen.
Der Volkspark entwickelt sich immer mehr zur Party-Hochburg, die von den Gästen mit Katerstimmung verlassen wird. Gegen die TSG feierte der HSV den vierten Dreier vor eigenem Publikum in Folge. Seit nunmehr neun Heimspielen sind die Hamburger ungeschlagen. In diesem Zeitraum verließ die Elf von Trainer Markus Gisdol siebenmal als Sieger den Platz. Eine solche Serie gab es zuletzt in der Saison 2008/09, als der HSV saisonübergreifend unter den damaligen Trainern Huub Stevens und Martin Jol sogar elf Partien in Folge zu Hause ohne Niederlage blieb und 31 von 33 möglichen Punkten holte.
„Die Zahlen sprechen für sich. Wir sind eine Festung zu Hause geworden“, sagte Christian Mathenia, der den verletzten René Adler im Tor vertrat. Rechtsverteidiger Dennis Diekmeier legte nach: „Wir sind zu Hause eine Macht. Die Stimmung ist mega geil – und jeder gewonnene Zweikampf wird gefeiert wie ein Tor.“ Als hätten sie sich abgesprochen, schlug Kapitän Gotoku Sakai in die gleiche Kerbe. „Ich freue mich immer wahnsinnig hier zu spielen, weil die Stimmung total großartig ist.“
Nagelsmann lobt HSV-Fans
Trainer, Mannschaft und Fans bilden wieder eine Einheit beim HSV. Das musste auch der in diesen Wochen hochgelobte Trainer-Shootingstar Julian Nagelsmann anerkennen. „Die Stimmung im Stadion ist schon fast ein Alleinstellungsmerkmal“, sagte der 29 Jahre alte Coach der Kraichgauer. „Wir haben das emotionale Niveau des HSV nicht erreicht. Das war dem Publikum geschuldet.“ Es sei so laut gewesen, dass sein Team ihn nicht mehr hörte.
Hoffenheim hatte unter der Woche noch die Bayern (1:0) geschlagen und reiste mit dem Selbstvertrauen von sieben ungeschlagenen Spielen in Folge nach Hamburg. Doch davon war gegen den HSV nicht viel zu sehen. Mit wuchtiger Körperlichkeit und von den Fans gepusht warfen die nach wie vor abstiegsbedrohten Rothosen alle taktischen Überlegungen Nagelsmanns über den Haufen.
Dessen Vorvorgänger Gisdol zog einen kuriosen Vergleich, wie die Hanseaten den Hoffenheimer Höhenflug stoppen konnten. „Uns war klar, wenn wir pressen, dann riskantes Vollgaspressing, sonst haben wir keine Chance aufgrund unserer technischen Unterlegenheit. Das ist wie schwanger, das gibt es auch nicht halb“, so der Trainer, der seiner gesamten Mannschaft aufgrund zahlreicher Ballgewinne ein Sonderlob aussprach. „Es ist ein schöner Tag, weil wir gegen einen unglaublich starken Gegner mit großer Selbstsicherheit gespielt haben.“
Gisdol schwärmt über Doppelpacker Hunt
Normalerweise vermeidet es Gisdol, nach einem Sieg einzelne Spieler hervorzuheben. Doch um ein Extralob für Doppeltorschütze Aaron Hunt kam der bescheidene Schwabe nicht herum. „Er ist ein richtig guter Pressing-Spieler. Es heißt immer: Es geht nur mit jungen Spielern. Doch es ist schön zu sehen, dass Aaron hier ist“, schwärmte Gisdol, der sich Hunts Leistungsexplosion in der Rückrunde nur bedingt erklären kann. „Aaron ist ein gutes Beispiel dafür, dass man auch im reiferen Profi-Alter noch einen Entwicklungssprung machen kann.“
Einzelkritik: Papas Gedächtnisgrätschen
Der bei den Fans oft gescholtene Mittelfeldspieler genießt intern eine hohe Wertschätzung, unterstrich Mittelfeld-Dauerläufer Lewis Holtby. „Wer in den letzten zehn Jahren Bundesliga geschaut hat, weiß, wie überragend Aaron ist.“
Für Hunt hat die lautstarke Unterstützung der Fans viel mit der neuen Leistungsfähigkeit zu tun: „Das ist zum großen Teil Kopfsache. Natürlich fühlt man die Müdigkeit. Aber man muss über diesen Punkt hinwegkommen, darf sich damit nicht beschäftigen. In jedem Spiel hat man einmal das Gefühl, total kaputt zu sein. Aber gerade in Heimspielen werden wir durch das Publikum noch einmal beflügelt.“
Hunt nimmt dem HSV die Hoffenheim-Angst
Hunt beschreibt den schier unbändigen Überlebenswillen des HSV. Und voran ging neben dem Ex-Bremer vor allem Anführer Sakai – mit der Attitüde eines Fußball-Samurais. „Wir haben auf dem Platz nie auch nur ein Prozent nachgelassen. Diese unglaubliche Stadionatmosphäre gibt uns eine wahnsinnige Kraft.“
HSV kann Verletzte kompensieren
Da fällt es aktuell auch nicht ins Gewicht, dass immer wieder HSV-Akteure verletzt sind und ersetzt werden müssen. „Jeder, der nachrückt, zeigt eine überragende Leistung“, beschreibt Sakai das HSV-Phänomen. Beim bevorstehenden Nordderby am Ostersonntag (15.30 Uhr/Sky und im Abendblatt-Liveticker) bei Werder Bremen werden Abwehrchef Kyriakos Papadopoulos (5. Gelbe Karte), Top-Scorer Nicolai Müller (Innenbandriss) und Stammtorhüter Adler (angebrochene Rippe) definitiv fehlen.
„Wir können das als Mannschaft richtig gut auffangen. Wenn ein neuer Spieler reinkommt, wird der Ausfall sofort aufgefangen. Selbst wenn ein Spieler im Spiel schwächelt, wird das durch andere Spieler ausgeglichen“, erklärte Hunt den neuen Zusammenhalt bei den Hanseaten vor dem Duell gegen seinen Ex-Club.
Bruchhagen: „Riesenschritt Richtung Klassenerhalt“
Für Gisdol ist das Prestigeduell gegen Werder indes noch ganz weit weg: „Dafür habe ich nach der Schlacht gegen Hoffenheim noch keinen Gedanken.“ Er wolle den Sieg erst mal genießen.
Mit Genuss stellte Vereins-Boss Heribert Bruchhagen beim Blick auf die Tabelle fest, dass der vor Monaten schon abgeschriebene HSV sich vier Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz erarbeitet hat. „Es war ein Riesenschritt in unsere Zielrichtung Klassenerhalt. Wer hätte gedacht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt in so einer Situation sein würden?“, so der Vorstandsvorsitzende.
Mit einem Sieg im Nordderby hätte der HSV nicht nur die bedingungslose Unterstützung der Fans auch für das nächste Heimspiel gegen Tabellenschlusslicht Darmstadt 98 sicher, es wäre auch ein weiteres Ausrufezeichen im Abstiegskampf.