Hamburg. Warum sich Gisdols Geduld mit dem Angreifer immer wieder lohnt, zeigt sich nun deutlich. Müller spielt aber auch um seine Zukunft.
Das übliche „Moin“, mit dem Nicolai Müller normalerweise die Fans beim HSV-Training in bestem Hamburgisch begrüßt, fiel am Dienstag aus. Müller ließ sich individuell behandeln. Muskuläre Probleme. Mal wieder. Seit drei Wochen hangelt sich der Flügelstürmer von Spieltag zu Spieltag. Immer wieder musste Trainer Markus Gisdol zuletzt um ihn bangen, immer wieder schaffte es Müller auf den letzten Metern, sich einsatzfähig zu melden.
Immer wieder Müller. Warum sich Gisdols Geduld mit dem Angreifer immer wieder lohnt, zeigte sich in aller Deutlichkeit am vergangenen Sonnabend. Immer wieder Müller hieß es beim 3:0-Sieg des HSV bei RB Leipzig, als der Offensivmann alle drei Hamburger Tore auflegte.
Müller ist der Topscorer des HSV
Es waren seine Vorlagen Nummer fünf, sechs und sieben in dieser Saison, womit er bereits jetzt seine Bestmarke aus Mainzer Zeiten übertroffen hat. Hinzu kommen vier eigene Treffer. Noch vier Scorerpunkte fehlen ihm zu seinem persönlichen Saisonrekord. „Drei Vorlagen in einem Spiel haben mich selbst überrascht“, sagt Müller, der sich neuerdings auch als effektiver Eckenschütze profiliert.
Müller ist der Topscorer des HSV – und für die Hamburger so wertvoll wie nie. „Im Moment fühlt es sich einfach richtig gut an“, sagt der 29-Jährige, der in Leipzig neben Torschütze Kyriakos Papadopoulos aus einem starken Kollektiv herausstach. Müller wiederum macht das Kollektiv verantwortlich für den Aufschwung des HSV. „Es ist einfach schön zu sehen, dass alle füreinander arbeiten und sich belohnen. Wir sind ein super Team geworden.“
In allen Spielen auf dem Platz
Und in diesem Team ist Müller Dauerbrenner und Dauerrenner in Doppelfunktion. Als einziger HSV-Profi stand er in dieser Saison in allen 20 Bundesligaspielen auf dem Platz. Und dabei sprintet Müller so viel wie kein anderer Spieler in der Bundesliga. 36,22 Spurts zieht er im Schnitt pro Spiel an. Das ist Liga-Spitzenwert. Und genau diese Geschwindigkeit ist es, die ihn für den HSV unersetzlich macht. Trainer Markus Gisdol will keine einzelnen Spieler hervorheben, doch er weiß genau, warum Müller so wichtig ist.
Zu Saisonbeginn sah das noch anders aus. Müller musste trotz seiner starken Vorsaison plötzlich um seinen Platz kämpfen, weil Trainer Bruno Labbadia den neuen Fanliebling Alen Halilovic als Back-up für seine Position vorsah. Auch auf Druck von außen wechselte Labbadia Halilovic ein – zumeist für Müller. Eine Situation, die ihn hemmte. Müller brauchte lange, um in die Saison zu kommen. Erst mit seinen zwei Toren beim 2:5 gegen Dortmund am zehnten Spieltag drehte sich Müllers Situation – und die des HSV. Seit es bei Müller läuft, läuft es auch beim HSV.
Müller ist ein Spätstarter
Der Saisonverlauf des früheren Mainzers steht symbolisch für seine bisherige Karriere. Müller ist ein Spätstarter – obwohl er bereits als 19-Jähriger im Profifußball bei Greuther Fürth debütierte. Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, dass ihn Benno Möhlmann im März 2007 beim 2:1-Sieg gegen den FC Augsburg das erste Mal einwechselte.
Möhlmann, der frühere HSV-Trainer und heutige Chefcoach von Drittligist Preußen Münster, erinnert sich an Müllers Anfänge im Männerfußball. „Er hat schon damals durch seine Effizienz herausgestochen“, sagt Möhlmann im Gespräch mit dem Abendblatt. „Ich habe früh gesehen, dass Nico es in die Bundesliga schaffen kann, hätte aber erwartet, dass es schneller geht.“
Auch in der Öffentlichkeit jetzt anders
Doch es dauerte, bis Müller den Durchbruch schaffte. 2009 ging er sogar den Umweg in die Dritte Liga, um beim SV Sandhausen Spielpraxis zu bekommen. Erst drei Jahre später blühte er in Mainz unter Thomas Tuchel auf. Es folgte eine Einladung zur Nationalmannschaft. Internationale Clubs buhlten um ihn, doch Dietmar Beiersdorfer überzeugte ihn 2015 vom „neuen HSV.“
Das Problem: Der neue HSV spielte wie der alte. Und darunter litt auch Müller. Es lief nicht in Hamburg, Müller zog sich zurück. Erst mit seinem Retter-Tor in der Relegation von Karlsruhe legte er seinen Rucksack ab. Seitdem erlebt der HSV einen neuen Müller – auch in der Öffentlichkeit. Der einstige Medienmuffel hat das soziale Netz entdeckt. Auf Instagram gibt Müller neuerdings private Einblicke. Man sieht einen fröhlichen Mann. „Gude Morge“ schreibt der Unterfranke gerne in bestem Hessisch. Müller ist lockerer geworden. Dazu hat vor allem die Geburt seiner Zwillinge vor drei Jahren beigetragen.
Familie ist in Hamburg verwurzelt
Mit seiner Frau und den Kindern lebt Müller in Othmarschen. Die Familie ist in Hamburg verwurzelt. Auch darum geht es, wenn Müller sich mit seiner Zukunft beschäftigt. 2018 läuft sein Vertrag aus. Es gibt Interessenten, zuletzt wurde er mit Topclubs aus der Bundesliga in Verbindung gebracht. Noch gibt es vom HSV und Sportchef Jens Todt keine Signale für eine vorzeitige Verlängerung – angesichts der ungewissen Ligazugehörigkeit logisch.
Müller wird sich entscheiden müssen. Will er noch mal international spielen? Sein einziges Spiel war 2011 ein Kurzeinsatz in der Europa-League-Qualifikation gegen Gaz Metan aus Rumänien. Klar ist zum einen: Sein nächster Vertrag wird sein letzter großer sein. Und zum anderen: So schnell will Müller den HSV-Fans nicht Tschüs sagen.