Erst das Beiersdorfer-Aus, dann die Bruchhagen-Verpflichtung und nun der Rücktritt von Gernandt als Aufsichtsratschef.
Es war 9.43 Uhr, als nach dem schweren Beben um die Absetzung von Clubchef Dietmar Beiersdorfer und die Verpflichtung von Nachfolger Heribert Bruchhagen am Dienstagmorgen erneut die HSV-Welt bebte. „Karl Gernandt tritt per sofort als Aufsichtsratsvorsitzender des HSV zurück“, teilte der krisengeschüttelte Club nüchtern via Twitter mit. Rumms, ein Nachbeben der stärkeren Sorte. „Ich muss diesen Schritt leider gehen“, ließ sich Gernandt auf der Club-Homepage zitieren, „weil zu viele bewusste Indiskretionen innerhalb unseres Gremiums dem HSV und seinen handelnden Personen in den vergangenen Monaten erheblichen Schaden zugefügt haben, aktuell die sportliche Trendwende gefährden und inhaltliche Führungsarbeit in dieser Konstellation nicht möglich ist.“
Gernandt wirft seinen Kollegen Indiskretionen vor
Mit diesem Schritt hatte zu diesem Zeitpunkt keiner gerechnet. Oder besser: fast keiner. Denn innerhalb des Kontrollgremiums des Bundesliga-Dinos rumorte es bereits seit einigen Monaten. „Ich bin entsetzt, mit welchen Kräften im Verein und im Aufsichtsrat die sportliche und langfristige Weiterentwicklung riskiert wird“, kritisierte Gernandt, der bereits am Montagabend einige Vertraute eingeweiht hatte, dass er über einen Rücktritt als Aufsichtsratschef nachdenke.
Die Kosten des HSV-Führungspersonals
Doch während kaum einer dieser Vertrauten mit einer schnellen Entscheidung rechnete, machte der 56-Jährige nach nur einer Nacht des Drüberschlafens tatsächlich ernst. „Wenn persönliche Motive über professionelles Verhalten gestellt werden, macht dies nachhaltige Führungsarbeit unmöglich“, erklärte am Morgen danach Gernandt, der an diesem Mittwoch um 9.30 Uhr eigentlich auf einer offiziellen Pressekonferenz Beiersdorfers Nachfolger Heribert Bruchhagen vorstellen sollte. Dies wird nun Gernandts bisheriger Stellvertreter Jens Meier übernehmen, der – um das Chaos perfekt zu machen – Hauptgrund für Gernandts Rücktritt light (nur als Vorsitzender, nicht als Aufsichtsrat) sein soll.
Dabei fing alles vor knapp drei Jahren so schön an. Die Initiative HSVPlus mit Aushängeschild Karl Gernandt war mit dem bescheidenen Versprechen „Aufstellen für Europa“ angetreten, um Wahlkampf für eine Ausgliederung der Profiabteilung des HSV e. V. in eine HSV AG zu machen. Wörtlich hieß es in dem damaligen Konzeptpapier: „Wir brauchen einen Aufsichtsrat, der ausnahmslos mit kompetenten und qualifizierten Personen besetzt ist. Mit Leuten, denen Visitenkarten egal sind (…). Unsere Aufsichtsräte müssen so auftreten, wie wir es auch von HSVern auf dem Platz erwarten: als Mannschaft.“ Und weiter: „Diese Mannschaft von Aufsichtsräten wird die Werte unseres Vereins nicht mehr einfach nur einfordern, sondern von oberster Ebene gemeinsam vorleben. Nur so wird der Aufbau einer erfolgreichen Zukunft des professionellen Fußballgeschäfts gelingen.“
Nur noch ein einfacher Kontrolleur
Knapp drei Jahre später ist die „erfolgreiche Zukunft“ längst Vergangenheit. Genauso wie die handelnden Personen. So ist aus dem Führungspersonal, das im Januar 2015 stolz die Rückumbenennung des Volksparkstadions gefeiert hatte (siehe Foto), nur noch Finanzvorstand Frank Wettstein übrig geblieben. Marketingvorstand Joachim Hilke? Ließ sich abfinden. Clubchef Beiersdorfer? Dürfte abgefunden werden. Und Aufsichtsratschef Gernandt? Hat sich damit abgefunden, nur noch ein einfacher Kontrolleur zu sein.
Dabei hatte die beschworene Aufsichtsratsmannschaft, die nach der Ausgliederung am 25. Mai 2014 angetreten war, von Anfang an mit Interessenkonflikten zu kämpfen. Trotz mehrfacher Dementis taten sich vor allem der von HSV-Investor Klaus-Michael Kühne gesandte Gernandt und HSV-Präsident Jens Meier als Hauptgegenspieler hervor. Hier Gernandt, Absolvent der Eliteuniversität St. Gallen, Topmanager mit Erfahrungen in Singapur, Tokio und New York. Dort Meier, gebürtiger Hamburger aus Fischbek, der sich bis zum Chef des Hamburger Hafens hocharbeitete.
Der eine, so wird es sich immer wieder erzählt, wollte als Mehrheitseigner auch Aufsichtsratschef werden, der andere, dies ist spätestens seit der Veröffentlichung am frühen Dienstag klar, wollte dies unter keinen Umständen zulassen. Heraus kam ein fauler Kompromiss: Gernandt wurde Kontrollchef, Meier und der Gernandt-Vertraute Felix Goedhart dessen Stellvertreter. Ein Gremium mit sechs Mitgliedern, aber gleich drei neuen Visitenkartenträger – der ganz normale HSV-Wahnsinn.
„Es geht ja nicht darum, wer von uns beiden der blondere ist“, hatte Gernandt erst kürzlich in kleinerer Runde gewitzelt. Doch zum Lachen war den beiden Alphatieren im HSV-Aufsichtsrat schon lange nicht mehr zumute. Während sich die beiden Wirtschaftsbosse in den ersten beiden Jahren nach der Ausgliederung noch arrangieren konnten, verschlechterte sich ihr Verhältnis proportional zur sportlichen Krise in dieser Saison zunehmend.
So soll sich Meier mehr und mehr über die zahlreichen Alleingänge Gernandts geärgert haben. Gernandt war nach Abendblatt-Informationen dagegen tief getroffen, dass hinter seinem Rücken mit Bruchhagen und auch mit Felix Magath als Beiersdorfer-Nachfolger Kontakt aufgenommen wurde. „Ich halte die Entscheidung, einen Wechsel auf der Position des Vorstandsvorsitzenden vorzunehmen, für inhaltlich richtig“, sagte Gernandt zwar am Dienstag, verriet dabei aber nur die Hälfte.
„Sportdirektorensuche wurde komplett unterminiert“
Denn weder Gernandt noch dessen Chef Kühne waren nach Abendblatt-Informationen trotz öffentlicher Lobhudeleien von der Personalie Bruchhagen restlos überzeugt. Das Fass zum Überlaufen brachte dann aber der Zeitpunkt der Bekanntgabe, den Gernandt und Beiersdorfer selbst erst für das Ende der Hinrunde vorgesehen hatten. „Wir haben angesichts der erkennbaren sportlichen Verbesserungen beschlossen, den Wechsel erst nach dem letzten Spiel des Jahres 2016 vorzunehmen und mit maximaler Diskretion vorzugehen, um die gute Arbeit unserer Trainers Markus Gisdol und der Mannschaft nicht mit öffentlichen Personaldiskussionen zu überlagern“, sagte Gernandt, der vor Wut regelrecht schäumte: „Schon wenige Tage nach dem Beschluss wurde ich von Medienvertretern mit den vertraulichen Gesprächen unseres Gremiums konfrontiert, außerdem mit der Beschlusslage und weiteren Details. Das ist in keiner Weise akzeptabel und gibt mir zu denken, ob sich wirklich alle ihrer Verantwortung bewusst sind. (…) Das Gleiche gilt übrigens im gleichen Maße für Beiersdorfer und seine Arbeit bei der Sportdirektorensuche – diese wurde auch komplett unterminiert.“
Was nach einer putzigen Mischung aus Shakespeare und „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ klingt, sind in Wahrheit schlimme Vorwürfe gegen die eigenen Kollegen. Offiziell äußern wollte sich am Dienstag auf Nachfrage kein Kontrolleur. „Wie es morgen weitergeht, da muss ich Sie auf morgen vertrösten“, sagte lediglich Meier vor dem Saal 151 im Rathaus, wo es am Mittag eigentlich um Beachvolleyball gehen sollte. Um Fußball geht es beim HSV schon lange nicht mehr.
Hinter vorgehaltener Hand wurde in dem Sechsergremium, das schon seit Monaten in zwei Lager gespalten ist, allerdings gemutmaßt, dass Gernandt die angeblichen (und nicht bewiesenen) Indiskretionen aus dem Aufsichtsrat nur als Vorwand für seinen Rückzug vom Vorsitz nahm. So soll sich Gernandt auch von den Medien, die er noch vor einem Monat an einen runden Tisch gebeten hatte, ungerecht behandelt fühlen. „Dass ich für die Folgen eines derartigen Verhaltens öffentlich gescholten werde, kann ich nicht akzeptieren“, sagte der Kühne-und-Nagel-Manager, der allerdings vor allem für seinen Zickzackkurs im Hinblick auf Beiersdorfer medial kritisiert wurde.
Der ganz normale HSV-Wahnsinn
So hatte Gernandt noch Anfang November auf der Vorstellung des Abendblatt-Buchs zu Uwe Seelers 80. Geburtstag Beiersdorfer demonstrativ den Rücken gestärkt: „Es macht keinen Sinn, den Kapitän im Sturm von Bord zu schicken.“ Zwei Wochen Dauerunwetter später sagte er dann im Abendblatt-Interview: „Natürlich gibt es das sogenannte Manöver des letzten Augenblicks. Bevor man eine Kollision nicht mehr verhindern kann, dann hat man nur noch eine Chance. Als Aufsichtsrat muss man wissen, wo dieser Punkt ist.“
Und dieser Punkt war nicht einmal zwei Wochen später gekommen. Direkt nach dem Nordderby gegen Werder Bremen (2:2) wurde Beiersdorfer mitgeteilt, dass der Aufsichtsrat Gespräche mit potenziellen Nachfolgern aufgenommen habe. Wenige Tage später war dieser dann mit Bruchhagen gefunden. Ausgerechnet am Nikolaustag wurde Beiersdorfer seine Demission mündlich mitgeteilt, zwei Tage später erhielt der Noch-Clubchef den Auflösungsvertrag per Kurier. Doch es kommt noch besser: Nach einem Telefonat zwischen Trainer Markus Gisdol und Bruchhagen soll dieser nun ernsthaft darüber nachdenken, Beiersdorfer doch weiterzubeschäftigen. Als Sportchef. Dabei hatte Gernandt in der Begründung für das Beiersdorfer-Aus wörtlich gesagt, dass dieser „leider nicht im Kerngeschäft Fußball erfolgreich“ gewesen sei. Und noch mal: der ganz normale HSV-Wahnsinn.
Kühne könnte den Geldhahn im Winter zudrehen
Bleibt die Frage, ob Klaus-Michael Kühne weiterhin Lust verspürt, in diesen Wahnsinn zu investieren. Auf Nachfrage wollte sich der streitbare Milliardär nicht äußern, doch wirklich glücklich über die Entwicklung der vergangenen Tage dürfte der Unternehmer kaum sein. Schon die Verpflichtung Bruchhagens, der Kühne in der Vergangenheit mehrfach kritisiert hat, soll dem 79 Jahre alten HSV-Anhänger einige Bauchschmerzen bereitet haben. Immerhin: Kühne kann trotz der Ereignisse keine Gelder zurückfordern, sondern „nur“ zugesagte Unterstützungen für Verstärkungen im Winter (laut „Sport Bild“ sollen es 20 Millionen Euro sein) einbehalten. Ob Gisdol also die drei erhofften Verstärkungen bekommt, von denen zwei schon ins Trainingslager nach Dubai mitsollten, bleibt abzuwarten.
Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt – und beim HSV sowieso. Weiter geht es nun an diesem Mittwoch um 9.30 Uhr mit der Präsentation Bruchhagens. Am Donnerstag folgt die turnusmäßige Pressekonferenz mit Gisdol, der wie Bruchhagen noch einmal erklären darf, wo er da eigentlich gelandet ist. Und für die, die es schon vergessen haben: Am Sonnabend soll der HSV tatsächlich wieder Fußball spielen. Um 15.30 Uhr. In Mainz.