Hamburg. Nach der vermeintlichen Rettung zittert der HSV plötzlich wieder vor der Relegation. Hat die Mannschaft ein mentales Problem?

Aaron Hunt war positiv gestimmt, als er am Montagmittag als letzter Spieler den Trainingsplatz im Volkspark verließ. Der Mittelfeldmann lächelte. „Es geht mir gut“, sagte er, nachdem er zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder Teile des Mannschaftstrainings mitmachen konnte. „Am Dienstag will ich wieder voll einsteigen, damit es bis Freitag hoffentlich klappt“, sagte Hunt. Am Freitag um 20.30 Uhr, das ist bekannt, trifft sein HSV im Nordderby auf Werder Bremen. Und nach einem Wochenende, das für die Hamburger nicht schlechter hätte laufen können, ist Hunt so etwas wie der letzte Hoffnungsträger in einer Mannschaft, die völlig unerwartet wieder in akute Abstiegsgefahr geraten ist.

Nach der 0:3-Niederlage in Dortmund und den Siegen der Konkurrenten sieht die Konstellation so aus: Verliert der HSV gegen Werder das dritte Spiel in Folge, könnte er in der Tabelle im schlechtesten Fall punktgleich mit den Bremern stehen, die Relegationsrang 16 belegen. Relegation. Das große Schreckgespenst des HSV ist zurück in den Köpfen. Auch wenn Bruno Labbadia unermüdlich daran arbeitet, das Positive an der Situation zu sehen.

Im Vergleich zu den Vorjahren kommt der HSV aus einer anderen Fallhöhe

Positives Denken oder mentaler Positivismus nennt man in der Psychologie das, was der Hamburger Trainer seit Wochen versucht. „Es geht nicht darum, Angst zu haben, sondern sich der Situation bewusst zu sein und zu wissen, was man gewinnen kann“, sagte Labbadia am Montag. „Und ich sehe immer das, was ich gewinnen kann und nicht das, was ich verlieren kann. Wir haben die Chance, Werder auf Distanz zu halten oder davonzueilen.“

Doch genau hier liegt das Kernproblem des HSV. Chancen, sich von den Abstiegsrängen zu distanzieren, hat die Mannschaft in der Rückrunde vor allem in den Heimspielen reihenweise vergeben. Und so geht es vier Spieltage vor Schluss wie schon in den vergangenen beiden Jahren nur noch um ein Ziel – bloß nicht absteigen. Der Unterschied: In dieser Saison kommt der HSV aus einer anderen Situation. Bewegte sich der Verein in den Vorjahren die gesamte Saison über am Rande der Abstiegszone, ist die Fallhöhe diesmal eine andere. Mehrfach schien der HSV in der Rückrunde rechnerisch schon gerettet.

Der erneute Existenzkampf erwischt die Spieler unerwarteter. Ein Problem? „Das kann man so sehen“, sagt Labbadia, bemüht aber lieber den Positivismus. „Man kann es auch umdrehen und sagen, dass wir es selbst in der Hand haben. Wir sind nicht abhängig. Ich bin lieber in der Situation, in der ich heute bin, als in der im vergangenen Jahr. Da waren wir abhängig von anderen.“

„Die Mannschaft muss sich an die positiven Erlebnisse erinnern“

Vor einem Jahr schaffte es Labbadia, bei seinem Amtsantritt eine leblose Mannschaft über Leidenschaft und Emotionen wieder zu wecken. In diesem Jahr muss die Mannschaft die Wende ohne einen neuen Impuls von außen schaffen. Für den Sportpsychologen Werner Mickler eine schwierige Situation. „In der Regel ist es leichter, wenn man aus einer Jägerposition kommt“, sagt Mickler, der unter anderem für den DFB arbeitet. „Der HSV weiß aus der Erfahrung, welcher Stress in der Relegation auf ihn wartet. Die Mannschaft muss jetzt kognitive Strategien entwickeln und sich an die positiven Erlebnisse erinnern. Bruno Labbadia macht das mit seinem Ansatz daher genau richtig“, sagt Mickler.

Labbadia wiederum sieht im Vergleich zum Vorjahr einen Vorteil. Die Mannschaft sei jederzeit in der Lage, sich Torchancen zu erarbeiten. So wie in der ersten halben Stunde in Dortmund, als Nicolai Müller, Ivo Ilicevic und Sven Schipplock gute Gelegenheiten vergaben. So wie es der HSV in der Rückrunde eigentlich immer gemacht und sich durch die fehlende Konsequenz vor dem Tor in die missliche Lage gebracht hat. Symptomatisch für den HSV im Jahr 2016 war die Chance durch Schipplock in der 36. Minute des Dortmund-Spiels, als der Stürmer vor dem Tor den Eindruck machte, als wolle er sein erstes Saisontor mit allen Mitteln verhindern.

Doch selbst dieser Szene konnte Labbadia noch etwas Positives abgewinnen. „Man kann auch sagen, dass Sven unglaublich aufmerksam war, als er den Ball geklaut hat“, sagte also der Trainer am Tag danach. „Leider hat er sich nicht belohnt.“ Mal wieder nicht. Die Abschlussschwäche der Stürmer bleibt das große Defizit des HSV. Zum sechsten Mal hatte Labbadia in Dortmund allein in der Rückrunde die Besetzung des Angriffs verändert. Während Schipplock noch gar nicht getroffen hat, wartet Lasogga seit 663 Minuten auf ein Tor.

Der HSV gibt bei den Angeschlagenen Lasogga und Müller Entwarnung

Am Freitag wird Lasogga wohl eine weitere Chance bekommen. Nachdem er am Sonntag mit einer Knieverletzung vom Platz musste, gab der HSV am Montag genau wie bei Nicolai Müller Entwarnung. Schon am Mittwoch soll der Stürmer nach Möglichkeit wieder mit der Mannschaft trainieren. Im Hinspiel gegen Bremen hatte sich Lasogga die Schulter ausgekugelt. Seitdem sucht er seine Form. „Wir hoffen, jetzt die richtigen Knöpfe zu drücken“, sagte Labbadia. Wohlwissend, was für ein Spiel den HSV am Freitag erwartet. „In so einer Situation erwarte ich einen erbitterten Kampf. Das Spiel am Freitag wird uns mental alles abverlangen.“

Dass der HSV ein Mentalitätsproblem hat, wurde in dieser Saison immer dann deutlich, wenn der ganz große Druck nicht da war. Insofern hofft Sportchef Peter Knäbel vor dem emotionsgeladenen Derby gegen Bremen mal wieder auf die Fähigkeit des HSV, Stresssituationen zu bewältigen. „Wenn sich jemand auskennt mit dieser Situation, dann sind wir das“, sagte Knäbel nach dem Spiel beim BVB. Positiver hätte das nicht mal Bruno Labbadia formulieren können.

HSV verliert gegen Dortmund

Gojko Kacar (l.) imd Duell mit Shinji Kagawa
Gojko Kacar (l.) imd Duell mit Shinji Kagawa © Bongarts/Getty Images | Lars Baron
Gotoku Sakai geht an Kagawa vorbei
Gotoku Sakai geht an Kagawa vorbei © Bongarts/Getty Images | Lars Baron
Dortmunds Adrian Ramos (l) und Hamburgs Cleber kämpfen um den Ball
Dortmunds Adrian Ramos (l) und Hamburgs Cleber kämpfen um den Ball © dpa | Guido Kirchner
Hamburgs Matthias Ostrzolek (r) grätscht gegen Dortmunds Gonzalo Castro
Hamburgs Matthias Ostrzolek (r) grätscht gegen Dortmunds Gonzalo Castro © dpa | Guido Kirchner
Dortmunds Torwart Roman Bürki (o) klärt vor Hamburgs Ivo Ilicevic den Ball
Dortmunds Torwart Roman Bürki (o) klärt vor Hamburgs Ivo Ilicevic den Ball © dpa | Guido Kirchner
Hamburgs Rene Adler (m.) sieht nach einem Foul von Schiedsrichter Marco Fritz (h) die Rote Karte
Hamburgs Rene Adler (m.) sieht nach einem Foul von Schiedsrichter Marco Fritz (h) die Rote Karte © dpa | Guido Kirchner
Hamburgs Gojko Kacar (m) wird für Torwart Jaroslav Drobny ausgewechselt
Hamburgs Gojko Kacar (m) wird für Torwart Jaroslav Drobny ausgewechselt © dpa | Guido Kirchner
Adrian Ramos erzielt das dritte Tor für den BVB
Adrian Ramos erzielt das dritte Tor für den BVB © Bongarts/Getty Images | Lars Baron
HSV Fans zünden zu Beginn der zweiten Halbzeit Bengalische Feuer im Gästeblock
HSV Fans zünden zu Beginn der zweiten Halbzeit Bengalische Feuer im Gästeblock © dpa | Guido Kirchner
Albin Ekdal liegt verletzt auf dem Rasen
Albin Ekdal liegt verletzt auf dem Rasen © dpa | Guido Kirchner
1/10