Hamburg. Labbadia lobt Fortschritte – mahnt aber den nächsten HSV-Entwicklungsschritt an. Auf Sportchef Peter Knäbel kommt viel Arbeit zu.
Ein Glas kann bekanntlich halb voll oder auch halb leer sein. Und dass in einem Land, in dem „da kann man nicht meckern“ zu den größtmöglichen Komplimenten zählt, eher vom Zustand „halb leer“ ausgegangen wird, dürfte nicht überraschen. Doch als Trainer Bruno Labbadia am Tag nach dem beeindruckenden 2:0 gegen Hertha BSC von einem Reporter gefragt wird, ob er sich denn über Mittelmaß freuen könne, muss der Coach zunächst einmal tief durchatmen. 21, 22, 23. Dann antwortet Labbadia: „Auf der einen Seite hofft man, dass da vielleicht noch mehr geht. Auf der anderen Seite wissen wir auch, wie wachsam wir sein müssen, um nicht doch noch mal da unten reinzurutschen.“ Und das Glas? Halb voll oder halb leer? Nun ja, es muss wohl niemand verdursten.
Dabei ist das ungute Gefühl, dass einem das Wasser sogar bis zum Hals steht, in Hamburg kein unbekanntes. In den vergangenen zweieinhalb Jahren stand der HSV fast permanent im Abstiegskampf. Da ist es wenig verwunderlich, dass Labbadia trotz Rang zehn und einem beruhigenden Polster von sieben Punkten auf den Relegationsplatz davon spricht, dass sein Team in dieser Saison noch nicht durch sei. „Der Abstiegskampf beginnt ab dem achten Platz“, sagt der Coach, wohlwissend, dass diese Das-Glas-ist-halb-leer-These nur bedingt zu halten ist.
Tatsächlich ist im Drei-Punkte-Zeitalter noch kein Bundesligaclub abgestiegen, der nach 25 Spielen 31 Punkte auf dem Konto hatte. Dabei freut sich Labbadia weniger über die Das-Glas-ist-halb-voll-Statistik als viel mehr über die Entwicklung, die zu dem Punktevorsprung geführt hat. „Anders als in der Vergangenheit sind wir nicht mehr von den Gegnern abhängig. Wir sind von uns selbst abhängig“, sagt er. „Wenn wir gut spielen, dann können wir jeden schlagen. Wenn wir schlecht spielen, dann kann uns jeder schlagen.“
Ersteres ist bis zu diesem Zeitpunkt der Saison nur einmal weniger geschehen als in der gesamten vergangenen Spielzeit. „Wir können die Tabelle lesen“, sagt Torhüter René Adler. „Aber bei uns redet keiner über den Abstiegskampf. Denn wenn man da jeden Tag drüber spricht, dann kommt man auch in den Abstiegskampf.“
Labbadia schafft Seltenes beim HSV
Gut vier Jahre ist es her, dass das Abendblatt zuletzt titelte: „Das Ende des Abstiegskampfes“. Ohne Fragezeichen. Am Ende der Saison 2011/12 sicherten die Hamburger den Klassenerhalt mit fünf Punkten Vorsprung. Doch wahrscheinlich hätte niemand für möglich gehalten, was nach einem Zwischenhoch und Platz sieben in den Jahren darauf folgen sollte. Nicht das Ende des Abstiegskampfes, sondern Abstiegskampf ohne Ende. Bis jetzt.
„Der Sieg gegen Hertha tat gut, aber wichtig ist, dass wir nun die nächsten Schritte machen“, sagt Sportchef Peter Knäbel, der noch in diesem Monat eine ganze Reihe von Entscheidungen treffen will. Mit Emir Spahic, Gojko Kacar, Ivo Ilicevic und Artjoms Rudnevs laufen die Verträge von vier potenziellen Stammspielern aus, vier weitere Leistungsträger sind nur noch bis 2017 unter Vertrag. Verlängern oder verkaufen – das ist die Frage. Aber zumindest die mittelfristige Zukunft der wichtigsten Personalie ist vorerst geklärt: Labbadia wird nach sieben Trainern in den vergangenen zwei Spielzeiten als erster Coach seit Thorsten Fink eine Saison beginnen und beenden.
Den Abend nach dem Sieg gegen Hertha nutzte der Fußballlehrer – gemeinsam mit seinen Assistenten, ein paar Freunden und Berater Michael Serr – zu einem seltenen Moment des Durchschnaufens. Im Henny’s in Winterhude wurden hausgemachte Rinderrouladen auf Speckbohnen und Kartoffelschaum serviert. „Den Sonntag haben wir genossen“, so Labbadia, „ab jetzt konzentrieren wir uns auf Bayer.“
Labbadia lobt Entwicklung der Mannschaft
Labbadia hat schnell nach seiner Verpflichtung im vergangenen Jahr erkannt, was die vom Dauerabstiegskampf müde wirkende Mannschaft brauchte. Frische, Schnelligkeit über die Flügel, ein dominantes Mittelfeld, eine ballsichere Verteidigung, Torgefahr im Sturm – und vor allem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. So ist es kein Wunder, dass mit Lewis Holtby und Nicolai Müller ausgerechnet die beiden Enttäuschungen der Vorsaison zu den verlässlichsten Stammkräften dieser Spielzeit zählen. „Die Entwicklung der Mannschaft ist positiv“, sagt Labbadia, „aber noch immer ist das Gebilde fragil. Wenn wir nur ein bisschen nachlassen, dann verlieren wir gegen jede Mannschaft der Bundesliga.“
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Wahrscheinlich kann man viele Indikatoren finden, wenn man nach Gründen für die neue Stabilität des HSV sucht. Laufleistung, Ballbesitz, herausgespielte Chancen, Passsicherheit oder auch Zweikampfquote. Letztendlich ist aber jede Statistik nur so gut wie der, der sie gefälscht hat. Sagt man zumindest. Labbadia sagt: „Endlich haben wir unser Glück selbst in der Hand.“
Gegen Hertha gab Labbadia seiner Mannschaft einen klaren Matchplan mit an diese Hand. Rechtsverteidiger Gotoku Sakai sollte die Räume in der Offensive nutzen, die ihm Berlins lauffauler Stürmer Salomon Kalou bot. Dafür sollte Albin Ekdal in der Rückwärtsbewegung mit aufpassen. Und der Plan ging auf. „So etwas freut einen Trainer natürlich sehr“, sagt Labbadia, der aber einschränkt: „Der nächste Entwicklungsschritt ist, dass wir unseren Plan konstant umsetzen. Das kann dauern.“
Und das Glas? Das füllt sich.