Wie der HSV-Tross in einer legendären Nacht den Nichtabstieg feierte, Sportdirektor Peters besungen wurde und selbst Bremen half.

Vier Trippelschritte, ein kurzer Blick, ein Schuss. Der Ball fliegt über die Mauer, und noch bevor er oben links im Toreck einschlägt, dreht Marcelo Díaz mit ausgebreiteten Armen in Richtung HSV-Fankurve ab. Was für Schuss, was für ein Tor, was für ein Spiel!

Dabei heißt es doch immer: Fußball ist nur ein Spiel. Schon klar. Der Satz wurde oft bemüht, zitiert und geschrieben. Sogar Franz Beckenbauer hat diese fünf Wörter mal gesagt. Als er noch der Kaiser war. Und als die Bayern noch Spiele verloren. 1999 war das. Champions League. Finale. Gegen Manchester United. Deutschlands Rekordmeister hatte bis zur 90. Minute 1:0 geführt. Doch nach 92:14 Minuten stand es 1:2. Abpfiff. Ende. Aus. Bayern hatte die „Mutter aller Niederlagen“ kassiert. Und Beckenbauer sagte: „Fußball ist nur ein Spiel.“

Möglicherweise stimmt das sogar, wenn man 25-mal deutscher Meister wird, fünfmal die Champions League gewinnt und 17-mal den DFB-Pokal holt. 1:2 gegen Manchester United? Bitter, aber die Welt dreht sich weiter. Fußball ist doch nur ein Spiel. Oder?

Natürlich nicht. Aber um zu verstehen, dass Fußball mehr als nur ein Spiel ist, darf man kein Bayern-München-Anhänger sein. Man muss Hamburger sein. Man muss den Fußball bedingungslos lieben, auch wenn der Fußball oft und jahrelang ziemlich gemein, fast schon grausam zu einem gewesen ist. Und: Man muss am 1. Juni dieses Jahres im Karlsruher Wildparkstadion bei Díaz’ Trippelanlauf und seinem Schuss ins Glück dabei gewesen sein. Fußball? Nur ein Spiel?? Von wegen!

So feiern die HSV-Fans den Klassenerhalt

HSV-Fans feiern in Hamburg in der Imtech Arena beim Public Viewing vor einer Videoleinwand den Ausgleichstreffer des HSV im Relegationsspiel
HSV-Fans feiern in Hamburg in der Imtech Arena beim Public Viewing vor einer Videoleinwand den Ausgleichstreffer des HSV im Relegationsspiel © dpa | Christian Charisius
Maskottchen Dino Hermann war nicht mehr zu halten
Maskottchen Dino Hermann war nicht mehr zu halten © WITTERS | TimGroothuis
Lotto King Karl umarmt den Dino
Lotto King Karl umarmt den Dino © WITTERS | TimGroothuis
Die Fans rasten aus!
Die Fans rasten aus! © WITTERS | TimGroothuis
13.000 Fans in Extase
13.000 Fans in Extase © WITTERS | TimGroothuis
Nach dem Schlusspfiff kannte die Freude keine Grenzen
Nach dem Schlusspfiff kannte die Freude keine Grenzen © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Großer Jubel!
Großer Jubel! © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Die Freude war kaum kanalisierbar
Die Freude war kaum kanalisierbar © Roland Magunia | Roland Magunia
Als das entscheidende Tor fiel, gab es im Restaurant
Als das entscheidende Tor fiel, gab es im Restaurant "Gurke" in Harvestehude kein Halten: HSV-Fans rissen die Arme hoch und lagen sich jubelnd in den Armen und sangen nach dem Schlusspfiff lautstark "Hamburch meine Perle" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Vorher war das Spiel in der Imtech-Arena kaum zu ertragen
Vorher war das Spiel in der Imtech-Arena kaum zu ertragen © dpa | Christian Charisius
Die Angst in den Gesichtern
Die Angst in den Gesichtern © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Wer glaubte noch an die Rettung?
Wer glaubte noch an die Rettung? © dpa | Christian Charisius
Die Fans des HSV standen zu Beginn voll hinter ihrem Team
Die Fans des HSV standen zu Beginn voll hinter ihrem Team © WITTERS | TimGroothuis
Die Karlsruher Fans zeigen vor dem Spiel eine Choregraphie
Die Karlsruher Fans zeigen vor dem Spiel eine Choregraphie © dpa | Daniel Naupold
Die Hamburger Fans brennen vor dem Spiel Pyrotechnik ab
Die Hamburger Fans brennen vor dem Spiel Pyrotechnik ab © dpa | Daniel Naupold
Auf der Tribüne: Josef
Auf der Tribüne: Josef "Joe" Zinnbauer und Oliver Kreuzer © WITTERS | ThorstenWagner
Tausende HSV-Fans waren auch beim Public-Viewing in der Imtech-Arena zugegen
Tausende HSV-Fans waren auch beim Public-Viewing in der Imtech-Arena zugegen © dpa | Christian Charisius
Public Viewing im Hamburger Volksparkstadion am Montag - die Uhr läuft noch
Public Viewing im Hamburger Volksparkstadion am Montag - die Uhr läuft noch © Roland Magunia | Roland Magunia
Die HSV-Fans machten in Karlsruhe schon vor dem Anpfiff ordentlich Alarm
Die HSV-Fans machten in Karlsruhe schon vor dem Anpfiff ordentlich Alarm © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Die Unterstützung ist schon die ganze Saison über einmalig
Die Unterstützung ist schon die ganze Saison über einmalig © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Trainer Bruno Labbadia guckt vor dem Anpfiff ein wenig skeptisch
Trainer Bruno Labbadia guckt vor dem Anpfiff ein wenig skeptisch © WITTERS | ValeriaWitters
Gojko Kacar konzentriert sich vor dem Spiel
Gojko Kacar konzentriert sich vor dem Spiel © WITTERS | ValeriaWitters
Artjoms Rudnevs, Heiko Westermann und Torwart Jaroslav Drobny vor der Partie
Artjoms Rudnevs, Heiko Westermann und Torwart Jaroslav Drobny vor der Partie © WITTERS | ValeriaWitters
Mohamed Gouaida, Ronny Marcos und Maximilian Beister bei der Platzbegehung
Mohamed Gouaida, Ronny Marcos und Maximilian Beister bei der Platzbegehung © WITTERS | ThorstenWagner
Pierre-Michel Lasogga kann auch spielen
Pierre-Michel Lasogga kann auch spielen © WITTERS | ValeriaWitters
KSC-Trainer Markus Kauczinski vor dem Spiel
KSC-Trainer Markus Kauczinski vor dem Spiel © WITTERS | ValeriaWitters
Torwart Jaroslav Drobny ist zur Unterstützung dabei
Torwart Jaroslav Drobny ist zur Unterstützung dabei © WITTERS | ValeriaWitters
Rafael van der Vaart (l.) und Peter Knaebel (Direktor Profifussball) gehen den Rasen ab
Rafael van der Vaart (l.) und Peter Knaebel (Direktor Profifussball) gehen den Rasen ab © WITTERS | ValeriaWitters
Rafael van der Vaart wirkt vor dem Spiel gelöst
Rafael van der Vaart wirkt vor dem Spiel gelöst © WITTERS | ValeriaWitters
Maximilian Beister ist guter Dinge
Maximilian Beister ist guter Dinge © WITTERS | ValeriaWitters
Poliziautos stehen vor dem Wildparkstadion
Poliziautos stehen vor dem Wildparkstadion © dpa | Daniel Naupold
90 Minuten vor dem Spiel ist der Schriftzug
90 Minuten vor dem Spiel ist der Schriftzug "Relegation 2015" am Spielertunnel im Wildparkstadion zu sehen © dpa | Daniel Naupold
Polizisten gehen vor dem Spiel durch den Eingang zum Wildparkstadion
Polizisten gehen vor dem Spiel durch den Eingang zum Wildparkstadion © dpa | Daniel Naupold
Die Ruhe vor dem Sturm
Die Ruhe vor dem Sturm © dpa | Daniel Naupold
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KSC-Fans wurden ermahnt, den Platz nicht vor Freude zu stürmen

An jenem Abend lief wie bei den Bayern gegen Manchester die 90. Minute, als klar wurde, dass Fußball kein Spiel ist, sondern Folter. Hunderte HSV-Anhänger waren schon vor Minuten über den Zaun geklettert und konnten nur von einer Hundertschaft von Polizisten in Schach gehalten werden. Und Karlsruhes Stadionsprecher hatte die eigenen Fans ermahnt, den Platz bitte erst nach dem Abpfiff vor Freude zu stürmen. Mein Kollege Alexander Laux und ich mussten eine Entscheidung treffen: Einer von uns beiden musste runter. In die Katakomben. Wenn Schiedsrichter Manuel Gräfe tatsächlich gleich abpfeifen und das Ende der Bundesligazugehörigkeit des HSV besiegeln würde, dann müsste einer von uns beiden vor der Kabine des HSV die Protagonisten abfangen.

Ein HSV-Gedicht an den Weihnachtsmann

Wir waren beide 2009 im Stadion dabei, als der HSV den sicher geglaubten Einzug ins Uefa-Cup-Finale verspielte. Gegen Werder Bremen! Es war mehr als nur ein Spiel. Es war der Anfang vom Ende. Wir berichteten darüber, wie sich einige Wochen danach der damalige HSV-Chef Bernd Hoffmann mit Sportchef Dietmar Beiersdorfer zerstritt und Beiersdorfer schließlich gehen musste. Ein Jahr später war der HSV wieder im Halbfinale der Europa League. Gegen Underdog Fulham. Im Rückspiel hätte ein 1:1 gereicht, um erstmals in der Geschichte ins Heimfinale im Volksparkstadion einzuziehen. Der HSV führte 21 Minuten vor Schluss mit 1:0 – und verlor im Nieselregen von London 1:2. Auch nicht einfach nur so ein Spiel. Wieder schied der HSV aus, wieder gab es Tränen. Wir berichteten über Trainerentlassungen und Managerwechsel. Über Finanzlöcher, Missmanagement, Abstiegsschlachten, Existenzängste, Relegationsendspiele. Über eine Revolution namens HSVPlus, über die Hoffnung, dass jetzt alles besser würde – und darüber, dass tatsächlich nichts besser wurde.

Über all das konnten wir in diesem Moment, als der vierte Unparteiische bereits die Nachspielzeit mit vier Minuten angegeben hatte, nicht noch mal nachdenken. Wir mussten entscheiden, wer von uns auf der Tribüne bleiben und den Spielbericht fertig schreiben sollte. Und wer rechtzeitig in den Bauch des Stadions vor die Umkleidekabinen der Profis verschwindet, bevor alles drunter und drüber gehen würde. Um es kurz zu machen: Ich blieb hinter meinem aufgeklappten Laptop auf der Tribüne, Alexander Laux verschwand – und dann ging es wirklich drunter und drüber wie vielleicht noch nie in der 128 Jahre alten HSV-Geschichte.

Exakt 90 Minuten waren gespielt, als der letzte HSV-Bundesligaspielbericht praktisch fertig war und Schiedsrichter Gräfe doch noch mal einen Freistoß für den HSV pfiff. „Diesen Freistoß darf man nicht geben“, schimpfte KSC-Manager Jens Todt später über die, sagen wir mal, zweifelhafte Entscheidung, „Augen auf bei der Berufswahl!“

Die Freistoß-Geschichte wurde immer besser

Noch viel mehr wurde in den Monaten danach aber darüber berichtet, was vor und nicht nach dem Freistoß gesagt wurde. Vor allem, was Díaz und Rafael van der Vaart zu bereden hatten. „Jeder im Stadion dachte, dass van der Vaart schießen würde. Wahrscheinlich dachte das sogar van der Vaart selbst“, unkte später HSV-Sportchef Peter Knäbel. Und wie das oft so ist, wurde die Geschichte von Mal zu Mal besser. Díaz selbst erzählte sie so: „Eigentlich wollte Rafa schießen, aber ich habe ihm dann gesagt: ‘Tomorrow, my friend!’“ Auf deutsch: Morgen, mein Freund!

Marcelo Díaz (M.) im kollektiven Jubelrausch
Marcelo Díaz (M.) im kollektiven Jubelrausch © dpa | Daniel Naupold

Ob es sich wirklich genau so zugetragen hat? Man weiß es nicht. Was ich aber weiß: Alles, was ich bis dahin geschrieben hatte und gerade in die Redaktion schicken wollte, war direkt nach Díaz’ geschichtsträchtiger Unterhaltung mit van der Vaart hinfällig. Der HSV, der im Prinzip gerade abgestiegen war, hatte es dank des Díaz-Treffers doch noch geschafft. Es war ein wunderschönes Tor, vielleicht das wichtigste Tor der Clubgeschichte. Ein Tor, das ein für allemal beweisen sollte, dass Fußball eben nicht nur ein Spiel ist. Und ein Tor, das mein Kollege in den Katakomben verpasst hatte.

1999 stiegen Franz Beckenbauer, Boris Becker und der damalige Uefa-Präsident Lennart Johansson in der 90. Minute in den Fahrstuhl. Es stand 1:0, und Bayern war Champions-League-Sieger, als die Tür zu ging. „Unterwegs hörten wir Jubel. Wir dachten: Okay, der Abpfiff“, erzählte Becker später. Als die Tür im Erdgeschoss wieder aufging und die drei auf die Anzeigentafel schauten, leuchtete dort das Ergebnis auf: 1:2. Manchester United war Champions-League-Sieger. Und Beckenbauer sagte: „Fußball ist nur ein Spiel.“

Abendblatt-Reporter war schon im Treppenhaus

Alexander Laux war im Treppenhaus, als er den Jubel der HSV-Fans und Verzweiflungsschreie der KSC-Anhänger hörte. Die Betreuer des Zweitligisten mussten den bereits entkorkten Schampus wieder wegstellen. Fünf Minuten später saß mein Kollege wieder neben mir auf seinem Platz. Verlängerung. Die erste Halbzeit traf keiner. Dann schob Nicolai Müller, der in der gesamten Saison bis dahin nur ein einziges Tor erzielt hatte, den Ball aus drei Metern locker ins Netz. Abpfiff. Ende. Aus. Der HSV hatte nach dem schmeichelhaften 1:1 im Hinspiel tatsächlich geschafft, was niemand mehr für möglich gehalten hatte.

Nicolai Müller (l.) traf in der Verlängerung zum 2:1-Sieg gegen den KSC
Nicolai Müller (l.) traf in der Verlängerung zum 2:1-Sieg gegen den KSC © dpa | Daniel Naupold

„Der Stein, der mir nach dem Tor zum 2:1 vom Herzen gefallen ist, war riesig. Eigentlich waren es mehrere Steine“, sagte Manager Knäbel, als er gebierduscht aus der Kabine kam. Im Hintergrund hörte man die HSV-Profis „Niemals Zweite Liga!“ grölen. Lewis Holtby band sich einen HSV-Schal um den Kopf, Maxi Beister sorgte für den Biernachschub. Der Abpfiff im Wildpark war der Anpfiff der Partynacht.

Alles nur ein Spiel? Sicher nicht.

HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer (l.) mit Trainer Bruno Labbadia.
HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer (l.) mit Trainer Bruno Labbadia. © WITTERS | ValeriaWitters

Während die HSV-Fußballer ihre Kabine in eine Kleinraumdisco verwandelten, Lotto King Karls „Hamburg, meine Perle“ und Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ aufdrehten, versammelten sich die mitgereisten Reporter am Mannschaftsbus. Sportdirektor Bernhard Peters, ein echter Westfale, war der erste, der sich – mit einer Wasserflasche – raus aus der Kabine und rein in den Bus wagte. „Bernie, zieh die Schlappen aus“, sangen die Spieler, die Minuten später kamen. Und während der durchnässte Dietmar Beiersdorfer auf dem Parkplatz noch Interviews gab, verwandelte sich der Mannschafts- in einen Partybus. Da hatte auch der HSV-Chef keine Lust mehr auf Pressegespräche. Beiersdorfer stieg in den Bus und gab das Kommando zum kollektiven Hüpfen vor. Um 23.31 Uhr rollte die HSV-Disco zum Red-Hot-Chili-Peppers-Song „Can’t stop“ vom Parkplatz.

Um kurz vor ein Uhr kam die Bremer Rettung

Wer nun aber denkt, dass die Arbeit der Reporter mit der Busabfahrt beendet war, irrt. Nun begann die wirkliche Arbeit: die Suche nach einem Feierabend- und Klassenerhaltsbier. Da der Flieger Richtung Hamburg erst am nächsten Morgen aus Frankfurt am Main starten sollte, war es Konsens, auf der nächsten Autobahnraststätte zwischen Karlsruhe und Frankfurt anzustoßen. Das Problem: Ab 24 Uhr dürfen die Autobahnraststätten keinen Alkohol mehr ausschenken. Und eine Kneipe, ein Wirtshaus, eine Bierstube oder auch nur eine noch offene Hotelbar war nicht in Sicht. Um kurz vor ein Uhr morgens war die Lösung gefunden: In der Minibar des Flughafenhotels gab es noch zwei gekühlte Bier. Bremer Bier. Egal. Aufgemacht und angestoßen. Auf den Fußball, der so unglaublich viel mehr ist als nur ein Spiel.