Hamburg. Aussagen Immobiles über fehlende Integration werfen beim HSV Fragen auf. Tut der Verein genug für die eigenen Profis? Die überraschende Antwort.

Viel wusste Cléber Reis über seine neue Heimat nicht, bevor er sich Ende August in São Paulo ins Flugzeug setzte. Bei Wikipedia las der HSV-Neuzugang nach, wo dieses Hamburg überhaupt liegt, wie viele Einwohner die Stadt hat und warum sich die Menschen dort tatsächlich als Hamburger bezeichnen, obwohl sie doch gar nichts mit McDonald’s zu tun haben. Und noch etwas erfuhr der Brasilianer bei seiner Internet-Recherche: In Hamburg schneit es – zumindest manchmal.

Sechs Monate später hat der Südamerikaner ein Haus in Blankenese gefunden; er hat mittlerweile Elbe und Alster gesehen; er weiß, wie man „merda“ auf Deutsch sagt – und im Januar hat es sogar ein wenig geschneit. Kurzum: Der Brasilianer fühlt sich wohl.

Selbstverständlich ist das nicht. Das beweist vor allem der Fall des Dortmunder Italieners Ciro Immobile. „Die Deutschen sind kalt, da kann man nichts machen. In den acht Monaten, seitdem ich hier bin, hat mich kein Mannschaftskollege zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen“, hatte der bislang offenbar noch nicht integrierte Stürmer in der vergangenen Woche der „Gazzetta dello Sport“ gesagt – und damit für jede Menge Wirbel gesorgt. Die Presseabteilung des BVB versicherte eilig, dass das Interview gar nicht autorisiert gewesen sei. Trotzdem titelte die „Bild“-Zeitung am nächsten Tag: „BVB-Star rechnet ab.“

Auch beim HSV wurde über Immobiles Aussagen diskutiert. Allerdings kamen die Verantwortlichen des Clubs zu einem ganz anderen Schluss. Vor allem zwei Fragen stellten sich HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer und Sportchef Peter Knäbel zum Fall Immobile: Macht sich denn der HSV genug Gedanken über die Integration neuer Spieler? Und: Kümmert sich der Club auch atmosphärisch ausreichend um die eigenen Profis? Ihre überraschend ehrlichen Antworten: Nein. Und nein.

Beiersdorfer erwägt die Einstellung eines Integrationsbeauftragten

„Es ist wichtig, dass sich ein Bundesligaverein fundiert Gedanken über die Integration seiner Spieler macht. Nur wenn der Spieler sich wohlfühlt, wird er längerfristig auch ,funktionieren‘“, sagt Dennis Pauschinger, der bereits von 2008 bis 2011 als Integrationsbeauftragter beim HSV die Südamerikaner Thiago Neves, Alex Silva, Paolo Guerrero und Tomás Rincón unterstützen sollte. „Ein Verein muss sich bewusst sein, dass eine Investition in einen Spieler mit der Investition in die Integration des Spielers verknüpft sein sollte. Der Transfer mag offiziell abgeschlossen sein, aber die eigentliche Arbeit fängt dann erst an“, sagt Pauschinger, der mit seiner Meinung offenbar nicht allein dasteht.

Auch Beiersdorfer und Knäbel erwägen, ob sie nicht perspektivisch wieder einen Integrationsbeauftragten für den HSV einstellen sollten. Dabei müsste so ein Betreuer weit mehr Aufgaben übernehmen, als dies bislang die Teammanager Thomas Westphal und Jürgen Ahlert ohnehin schon leisten. So könnte es bei einem Millionentransfer eben nicht nur darum gehen, bei Behördengängen zu helfen, eine Wohnung zu suchen und den Weg zur Arena zu zeigen. Vielmehr sei ein ganzheitliches Integrationsmanagement notwendig. Nicht nur der Spieler, sondern auch dessen Familie muss sich wohlfühlen. Dafür soll auch eine HSV- und Hamburg-Fibel erarbeitet werden, mit deren Hilfe Neuzugängen die ersten Schritte in der Hansestadt erleichtert werden. Ein schmaler Grat, denn bei all den Überlegungen muss auch die Frage beantwortet werden, wie viel der Club für seine neuen Spieler tun kann – und wie viel die Spieler selbst tun müssen.

„Als Verein kann man nur die Rahmenbedingungen so gut wie möglich gestalten“, sagt Trainer Joe Zinnbauer, „am Ende ist aber jeder Spieler selbst für sich verantwortlich.“ Ein guter Mannschaftsgeist sei zwar ein wichtiger Erfolgsfaktor, glaubt der Coach, aber man könne doch niemanden zwingen, einen neuen Kollegen zu sich nach Hause zum Abendessen einzuladen. „Als neuer Spieler muss man auch integrationswillig sein. Das fängt bei der Sprache an und hört beim Miteinander in der Kabine auf. Dabei müssen ja nicht zwangsläufig Freundschaften fürs Leben entstehen“, sagt Zinnbauer.

Verschworene Gemeinschaft

Freundschaften im Fußball: ein schwieriges Thema. „Es ist utopisch, dass alle elf Spieler auf dem Platz eng befreundet sind. Ein Verein ist doch heutzutage wie ein Unternehmen – und da sind doch auch nicht alle Kollegen gut befreundet“, sagte René Adler einmal in einem Interview mit dem Abendblatt. Er selbst habe keine echten Freunde unter Fußballern. Einen guten Mannschaftsgeist hält aber auch der Torhüter für wichtig. „Man sollte eine verschworene Gemeinschaft bilden, ohne dass das bedeutet, dass man unbedingt beste Freunde sein muss.“

Wie verschworen die Gemeinschaft beim HSV ist, lässt sich nur erahnen. Ein zweiter Fall Immobile ist jedenfalls nicht bekannt. Und obwohl der sportliche Erfolg zuletzt ausblieb, soll sich das Mannschaftsklima stark verbessert haben. Besonders Spieler wie Heiko Westermann, Johan Djourou und auch Jaroslav Drobny sollen das Miteinander forcieren. So traf sich das Team gerade erst am vergangenen Donnerstag auf Einladung von Sportchef Knäbel beim Italiener Trattoria Due da Enzo am Großneumarkt zum Essen. „Früher soll es ja vorgekommen sein, dass kaum einer zu so einem Teamtreffen gegangen ist“, sagt Zinnbauer, „das ist heute undenkbar. Innerhalb der Truppe ist so ein Abend wieder ein Pflichttermin.“

Doch auch beim HSV bleibt Integration Schwerstarbeit. So fehlte ausgerechnet Cléber beim ersten Mannschaftsabend nach seiner Verpflichtung im vergangenen September. Der Brasilianer war eingeladen, hatte den auf Deutsch angekündigten Termin aber schlicht nicht verstanden.