Dem trügerischen Optimismus nach dem guten Slomka-Debüt folgten neben dem 0:1 in Bremen zerbrochene Scheiben und bedrückender Realismus
Hamburg/Bremen. Es war schon nach 18.30 Uhr, als der Hamburger Mannschaftsbus am Sonnabend den Ort des Geschehens verlassen konnte. Anders als beim Empfang einige Stunden zuvor, als ein grün-weißer Mob das HSV-Gefährt am Weserstadion mit einem Steine- und Flaschenhagel begrüßt hatte, waren es knapp anderthalb Stunden nach Ende des 100. Nordderbys nur noch einige Dutzend Fans, die sich ein wenig Schadenfreude nicht ersparen konnten. „Zweite Liga, Hamburg ist dabei, Zweite Liga, Hamburg ist dabei!“, sangen die Werder-Anhänger dem von einer Polizeieskorte begleiteten Bus hinterher. Die wohl mit einem Stein eingeworfene Seitenscheibe hatte Busfahrer Miroslav Zadach mit einer Plane abgeklebt – die weitaus schlimmeren Schäden des ewigen Städteduells konnte der HSV-Chauffeur dagegen nicht so einfach kaschieren.
0:1 hatten die Hamburger beim Nordrivalen verloren, wodurch der HSV auch nach zwei Dritteln der Saison auf Relegationsplatz 16 und damit im Gefahrengebiet der Liga bleibt. Der positive Stimmungswechsel, den zunächst Neu-Trainer Mirko Slomka mit dem leidenschaftlichen 3:0-Debütsieg gegen Borussia Dortmund ausgelöst hatte, war nach nur einer Woche schon wieder vergessen. „Leider konnten wir den Schwung aus dem Dortmund-Spiel einfach nicht mitnehmen“, gab Sportchef Oliver Kreuzer unmittelbar vor der Abfahrt zu Protokoll, „nun wird es bis zum Saisonende ein ganz enges Rennen bleiben.“ Wer also gedacht hatte, dass nach dem Trainerwechsel das Schlimmste überstanden sei, sollte sich geirrt haben. Nach der verdienten Derbyniederlage mit nur einer Torchance in 90 Minuten heißt es für den HSV wieder: Willkommen in der Wirklichkeit!
„Es ist einfach beschissen, beide Derbys in einer Saison zu verlieren“, brachte es Rechtsverteidiger Dennis Diekmeier auf eine rustikale Art und Weise auf den Punkt, die den Hamburgern auf dem Platz noch gefehlt hatte. Denn spielerisch war Werder in einem insgesamt höhepunktarmen Duell keinesfalls besser, doch kämpferisch ging das Jubiläumsderby klar an Bremen. „Wir waren von Anfang an nicht so griffig“, sagte Diekmeier, der für den unzureichenden Elan allerdings keine plausible Erklärung parat hatte.
An der von Slomka gewählten Startformation konnte es jedenfalls kaum gelegen haben. Denn wie schon beim überzeugenden 3:0-Sieg gegen Dortmund hatte sich Hamburgs neuer Fußballlehrer auch gegen Bremen für die eher kampfbetonte Startelf mit Tomas Rincon und Petr Jiracek im Mittelfeld entschieden. Kapitän Rafael van der Vaart musste dagegen, wie allgemein erwartet worden war, zunächst auf die Ersatzbank. Doch anders als gegen den BVB, als das von Slomka geforderte schnelle Umschaltspiel noch so herausragend funktioniert hatte, klappte in Bremen in Halbzeit eins wenig bis gar nichts. „Erst nach 40 Minuten haben wir angefangen, Fußball zu spielen“, gab Tolgay Arslan nach der Partie zu. Das Fatale: Zu diesem Zeitpunkt stand es längst 1:0 für den Gastgeber, weil Zlatko Junuzovic einen Geniestreich Aaron Hunts per Hacke zur verdienten Führung vollenden konnte (16.).
Eine erhoffte Trotzreaktion auf den frühen Rückstand blieb allerdings aus – im Gegenteil. Während sich Werder noch zwei weitere gute Gelegenheiten durch Torjäger Nils Petersen erkämpfen konnte (23./30.), durften sich die 6000 mitgereisten Hamburger im ersten Durchgang lediglich über einen Lattenschuss Hakan Calhanoglus (43.) freuen. „Es sah nicht so aus, als ob wir ein Tor an diesem Nachmittag hätten erzielen können“, gab Nationalspieler Marcell Jansen, der besonders die erste halbe Stunde noch mal aufarbeiten wollte, unverblümt zu: „Die ersten 30 Minuten müssen wir analysieren.“
Doch auch das Geschehen in der fußballerisch leicht verbesserten zweiten Halbzeit gab Grund genug zur ausführlichen Problemerörterung. So spielte der HSV nach der Einwechslung van der Vaarts etwas flüssiger nach vorne, doch auch mit dem unterm Strich wieder enttäuschenden 31 Jahre alten Niederländer blieben vielversprechende Toraktionen Mangelware. Van der Vaart dirigierte ein Orchester, in dem sehr viel mehr als nur die erste Geige zu fehlen schien. Exemplarisch waren die sechs (!) Minuten Nachspielzeit, in der sich der HSV nicht mal eine Halbchance durch eine beherzte Schlussoffensive erkämpfen konnte.
„Wie haben leider die Partie angenommen, die uns von Werder Bremen vorgegeben wurde“, bilanzierte der enttäuschte Slomka, den auch die Daten und Fakten zum 100. Derby nicht aufheitern wollten: „Statistisch haben wir ein gutes Spiel gemacht“, sagte der Trainer, dem – im Gegensatz zu Sportchef Kreuzer – aber sehr wohl bewusst war, dass rein faktisch die Sorgen nach dem ersten von fünf aufeinanderfolgenden Duellen mit direkten Abstiegskandidaten zugenommen haben. „Die Sorgen sind nicht größer geworden“, widersprach der nach dem Abpfiff genervt wirkende Kreuzer: „Es hat sich doch nichts geändert, wir sind noch immer auf einem Relegationsplatz.“
Diese Tatsache ist es aber, die einen Großteil der enttäuscht zurückfahrenden Hamburger beunruhigt. Ein verlorenes Nordderby sowie eine leichte und eine schlimme Verletzung (siehe unten) würden im Allgemeinen schon reichen, um nach 90 Minuten von Dur in Moll zu wechseln. Doch die allgemeine Tabellensituation mit den kommenden vier Duellen gegen direkte Konkurrenten im Abstiegskampf (Frankfurt, Nürnberg, Stuttgart, Freiburg) ist es, die aus dem Stimmungstief ein Drohszenario werden lässt. Die Angst ist zurück – und das nur eine Woche nach der Rückkehr der Hoffnung.