Vor einem Jahr hat das Abendblatt Tolgay Arslan als „Mensch 2013“ vorgeschlagen. Und auch für 2014 hat sich der Deutschtürke viel vorgenommen. Er träumt von Europa – und selbst gemachten Börek seiner Mutter.

Hamburg. Ein Jahr hat 365 Tage, 8760 Stunden oder auch 525.600 Minuten – vor allem aber geht die Zeit viel zu schnell um. „Ein ganzes Jahr ist das schon wieder her?“, fragt Tolgay Arslan, als sich der HSV-Profi in den Katakomben der Imtech-Arena ausgerechnet in den Raum setzt, in dem normalerweise nach den Spielen zur Dopingprobe gebeten wird. „Hier ist etwas mehr Ruhe“, erklärt er, während im Hintergrund die jauchzenden Mitspieler zu hören sind, die vor dem Nachmittagstraining eine Runde Fußball-Tennis vor dem Kabineneingang spielen. „Ist viel passiert“, sagt Arslan, der sich bereits zum dritten Mal in Folge zum traditionellen Jahresrückblick- und Jahresvorschaugespräch mit dem Abendblatt trifft.

Vor 24 Monaten war eine kleine Tribüne im Trainingszentrum von Marbella Treffpunkt, vor ziemlich genau einem Jahr wagte Arslan im ICE von Hamburg nach Köln einen Ausblick. „2013 wird mein Jahr“, sagte die „Überraschung des Jahres 2012“ (O-Ton von Ex-Trainer Thorsten Fink) damals – und hielt nach eigener Überzeugung Wort. „Für mich persönlich war es ein gutes, aber kein perfektes Jahr“, sagt Arslan, „ich hatte mir vorgenommen, dass ich mich 2013 etabliere und nicht mehr wegzudenken bin. Und ich denke, dass mir das gelungen ist.“

28-mal stand der gebürtige Paderborner 2013 in der Bundesliga auf dem Platz, hatte unter Ex-Trainer Thorsten Fink genauso einen Stammplatz als Teil der Doppelsechs wie unter Neu-Coach Bert van Marwijk. „Unter Thorsten Fink habe ich einen großen Schritt gemacht, ich war und bin ihm sehr dankbar“, sagt Arslan, der noch immer SMS-Kontakt mit seinem Förderer pflegt und nicht verhehlt, dass er sich um seinen gerade erworbenen Status Sorgen machte, als Fink geschasst wurde: „Wenn ein neuer Trainer kommt, fängt man ja immer bei null an.“

Doch die Sorgen waren unbegründet. Schnell merkte Arslan, dass ihn auch van Marwijk schätzt, was auf Gegenseitigkeit beruht. „Es wird schwierig, einen so guten Trainer noch mal zum HSV zu holen. Ich hoffe, dass Bert van Marwijk etwas länger bleibt“, sagt Arslan anerkennend. Den Niederländer kennt er sogar viel länger, als das manch einer im Verein weiß. So erzählt der Deutsch-Türke, dass er bereits ein Fan van Marwijk zu dessen Zeiten in Dortmund war, als der damals 14-jährige Tolgay noch Balljunge beim BVB war. „Er fordert sehr viel, aber er fördert auch“, sagt der mittlerweile 23-Jährige.

Die Zeiten als Balljunge sind nun schon neun Jahre her – und auch die Zeiten, in denen Arslan immer nur als Talent wahrgenommen wurde sind vorbei. „Ich übernehme jetzt Verantwortung, wurde für den Mannschaftsrat auserkoren“, sagt der 1,80 Meter große Techniker, dem die neue Rolle als Junior-Führungsspieler so richtig gefällt. Er merke, dass seine Mitspieler größeren Respekt haben, sagt er: „Ich bin nicht mehr der Erste, der nach dem Training die Hütchen tragen muss. Es wird ganz anders mit mir umgegangen. Wenn ich mal ein Fehlpass mache, dann schreit keiner rum.“

Zufrieden mit dem Erreichten ist Arslan aber keineswegs. Er wolle sich immer verbessern, habe noch immer das Ziel, auf seiner Position irgendwann mal einer der besten Spieler der Bundesliga zu werden. Sein größter Traum, auch daraus macht er keinen Hehl, ist es, mal die Champions-League-Hymne vor dem Spiel zu hören – natürlich nicht nur vor dem Fernseher. „Ich will unbedingt international spielen. Das ist mein größtes Ziel“, sagt Arslan, dem durchaus bewusst es, dass dies in dieser Saison mit dem HSV nahezu unmöglich ist.

Auch deswegen dürfte es ein interessanter Sommer für Ali, wie er von den Mitspielern genannt wird, werden. 2015 endet sein Vertrag, und in der Regel bedeutet das, dass entweder ein Jahr zuvor verlängert oder verkauft wird. So sind die Gesetzte des Marktes, die auch Arslan kennt. „Auf mich ist noch niemand zugekommen. Wir können uns ruhig Zeit lassen“, sagt der von Thomas Kroth betreute Fußballer, „nach der Saison kann man sich an einen Tisch setzen und über die Zukunft sprechen.“ Obwohl es zuletzt sogar eine ernst zu nehmende Anfrage von Galatasaray Istanbul gab, sei der HSV natürlich sein erster Ansprechpartner, er sei zufrieden, habe dem Verein sehr viel zu verdanken. Was man eben so sagt.

Dabei ist Arslan keiner, der einfach so drauflos redet. Der Wahlhamburger überlegt, bevor er antwortet. Er ist nachdenklich, macht sich Gedanken, ab und an auch zu viele. Noch immer arbeitet er mit Mentaltrainer Thomas Kloth zusammen, sucht dessen Rat, wenn er das Gefühl hat, einen Ratschlag gebrauchen zu können. „Wenn mich was bedrückt, rufe ich an“, sagt Arslan, der in Absprache mit Kloth auch seine persönliche Spielvorbereitung umgestellt hat. Während er früher Zettel mit Zielen geschrieben hat, die er im Stutzen versteckte, geht er heute am Morgen im Hotel noch mal in aller Ruhe in sich. „Ich versuche, vor dem Spiel meinen Nullpunkt zu erreichen, ich tauche dann in eine andere Welt ab. So komme ich runter, kann mich danach voll auf das Spiel konzentrieren“, sagt er.

Für Arslan ist Fußball mehr Berufung als nur Beruf. Er weiß, dass er im Haifischbecken Bundesliga nur mitschwimmen kann, wenn er mehr als andere macht. Zusätzliche Kopfarbeit gehört genauso dazu wie zusätzliche Beinarbeit. So hat er auch mit seinem Athletikcoach Jens Schulze zwischen den Feiertagen wieder in Paderborn Sonderschichten absolviert, während der Saison macht er mit Personaltrainer Moritz Klatten Krafttraining, Beweglichkeit und Schnelligkeit. „Ich kann nicht eine Woche lang nichts machen. Dann wäre ich auch zu anstrengend zu Hause für meine Madame.“

Seine Madame, das ist Freundin Jana, die ihren Tolgay im vergangenen Sommer im gemeinsamen Las-Vegas-Urlaub auch ganz kräftig auf andere Gedanken bringen musste. Nachdem sich Arslan im Saisonendspurt einen Kreuzbandanriss zugezogen hatte wurde aus seinem erhofften Jahreshöhepunkt bei der U21-Europameisterschaft ganz schnell der Tiefpunkt des Jahres. Bis zuletzt wurde Arslan ein Platz im Kader freigehalten, aber der Nationalspieler musste passen. „Für mich war das wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Arslan, der aber mittlerweile gelernt hat, mit Rückschlägen umzugehen: „Wenn man eine Krise hat, dann muss man wieder aufstehen und weitermachen.“

Immer weitermachen, dieses berühmte Motto hat nicht nur Oliver Kahn, sondern das gilt auch für Arslans Mutter. Die versorgt ihren Sohnemann nach jedem Heimspiel mit türkischen Köstlichkeiten, von denen er noch tagelang zehrt. „Mamas Küche ist die beste“, sagt Arslan, der besonders mit Reis gefüllte Paprika, Köfte, eine Art türkische Frikadelle und Börek, einen türkischen Strudel, zu schätzen weiß. „Da esse ich zwei oder drei Tage von“, sagt Arslan. Drei Tage, 72 Stunden oder auch 4320 Minuten – aber Zeit ist ja bekanntlich relativ.