Auszug aus dem neuen Abendblatt-Buch: Martin Wilke erlebte ein Jahr nach der Einführung der Eliteliga eine kuriose Expressentlassung.
Hamburg. „HSV – Ein Verein. Eine Stadt. Immer dabei.“ So heißt das Buch, das das Abendblatt zum 50. Bundesligajubiläum veröffentlicht. Ein Kapitel ist Martin Wilke gewidmet, dem ersten, fast vergessenen Bundesligatrainer. Hier Auszüge.
Am Abend nach dem zweiten Gruppenspiel um die deutsche Meisterschaft 1962 saß die HSV-Mannschaft in einem Hotel einträchtig nebeneinander. Die 0:1-Niederlage gegen den 1.FC Köln hatte die Chance auf den Titelgewinn drastisch geschmälert. HSV-Trainer Martin Wilke trat vor die Mannschaft und stellte seinem Team die Frage aller Fragen: „Ihr wisst, dass es im nächsten Jahr die Bundesliga geben wird – ihr müsst euch entscheiden: Wer macht mit, wer geht mit uns in den Profifußball?“ Wilke erinnert sich: „Bevor einer etwas sagen konnte, erhob sich Jürgen Werner und teilte allen im Raum recht forsch mit: ‚Ihr könnt darüber denken, wie ihr wollt, aber nur Fußball entspricht nicht meiner Lebensvorstellung. Ich werde als Lehrer arbeiten.‘ Ich sehe den Uwe Seeler noch neben Werner sitzen, der Dicke war total baff.“
In Köln also stellte der HSV damals ein Jahr vor dem Bundesligastart die Weichen für die Eliteliga. Neben Werner gab auch Uwe Reuter, von Beruf Lehrer, bekannt, kein Profi werden zu wollen, wenn es ihm die Behörde verbieten würde – Reuter verließ den HSV. Mit dem Start der Bundesliga wechselte auch Klaus Neisner den Verein, er blieb in der Oberliga, ging zu Bergedorf 85. „Wir hatten an jenem Abend in Köln nur 16 Spieler, die Profis werden wollten“, sagt Martin Wilke, der letzter Oberligatrainer und zugleich erster Bundesligacoach des HSV war.
Der HSV spielte unter der Regie von Martin Wilke eine gute erste Bundesligasaison, stand in der Hinrunde dreimal auf Rang eins. „Aber unser Kader war zu klein, und da wir auch noch im Europapokal unterwegs waren, krochen wir bald auf dem Zahnfleisch über den Rasen. Letztlich ging uns ein wenig die Luft aus, aber ich war mit Platz sechs zum Schluss eigentlich ganz zufrieden.“
Dass Wilke dennoch nach nur einer Spielzeit gehen musste, lag wohl auch ein wenig am „Größenwahn“ im HSV-Präsidium. Der Coach erinnert sich: „Ich musste eines Tages bei Präsident Karl Mechlen in der Geschäftsstelle antreten, und dort wurde mir dann mitgeteilt, dass man sich von mir trennen müsse. Mechlen sagte mir vollmundig, dass man nun beim HSV einen Stilwechsel plane.“ Martin Wilke ist noch heute erstaunt, wenn er davon spricht: „Mechlen, der aus dem Westen kam, wollte mehr westdeutsche Elemente im Spiel des HSV haben. Mehr Kampf. Ich hatte aber eine Mannschaft aufgebaut, die spielerisch zum Erfolg kommen sollte – und so ja auch oft genug zum Erfolg gekommen ist.“ Erstaunlich an dieser Trennung war, so Wilke, dass der HSV die hanseatischen Tugenden total außer Acht ließ: „Mein Vertrag lief eigentlich noch zwei Jahre, doch das nahm keiner so richtig zur Kenntnis. Das war schon ein bisschen Harakiri.“ Trotz allem eine kuriose Situation, denn der HSV hatte nicht enttäuscht. Ein Rang im oberen Mittelfeld war den erfolgsverwöhnten Verantwortlichen dann aber offenbar doch zu wenig.
Und heute? Der 86-Jährige geht nicht mehr zum HSV, weiß aber alles von seinem ehemaligen Arbeitgeber und sagt über den heutigen HSV: „Der Verein hat sich mit den vielen Trainerwechseln immer tiefer in die Misere geritten. Ich kann das, was da gelaufen ist, nicht glauben. Amateurhaft.“
„HSV – Ein Verein. Eine Stadt. Immer dabei“. 504 Seiten, € 34,95, jetzt vorbestellen unter www.abendblatt.de/shop oder 040/347-26566. Das Buch erscheint Ende September.