Der HSV-Aufsichtsrat hat bereits vor dem Saisonfinale mit drei Nachfolgekandidaten gesprochen. Favorit ist DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig.
Hamburg. Die 50. Bundesligasaison war nicht einmal 15 Minuten Vergangenheit, da riskierte HSV-Sportchef Frank Arnesen einen ersten Ausblick in die Zukunft. "Ich blicke positiv nach vorne", sagte der Däne direkt nach dem 0:1 gegen Bayer Leverkusen, "wir sind von ganz unten zurückgekommen. Jetzt dürfen wir uns auf eine positive Zukunft freuen." Für ihn stünden nun viele Entscheidungen an. "Es gibt viel zu tun", sagte Arnesen, der auf der dreitägigen Saisonabschlussfahrt ins brandenburgische Neuruppin von Dienstag bis Donnerstag auch unbequeme Gespräche mit Streichkandidaten nicht aus dem Weg gehen will.
Was Arnesen zu jenem Zeitpunkt noch nicht wusste: Er selbst ist offenbar der prominentester Streichkandidat des HSV. Wie das Abendblatt erfuhr, wird hinter den Kulissen bereits seit Wochen über eine vorzeitige Trennung des Managers debattiert. Innerhalb des Aufsichtsrats, der formell für die Bestellung und Absetzung des Vorstands zuständig ist, hat es bereits mehrere inoffizielle Gesprächsrunden zu der wohl wichtigsten Personalentscheidung des Sommers gegeben. Und obwohl es noch keine offizielle Sitzung mit einer entsprechenden Tagesordnung gab, hat der Personalausschuss (Manfred Ertel, Jens Meier, Christian Strauß und Eckart Westphalen) bereits mehrere Gespräche mit potenziellen Nachfolgern geführt. Anders als im Sommer 2009, als nach der Demission von Dietmar Beiersdorfer zwei Jahre lang erfolglos nach einem Nachfolger gesucht wurde, will das Kontrollgremium diesmal besser vorbereitet sein.
Bereits in dieser Woche könnte die bislang streng geheime Operation so richtig an Fahrt aufnehmen. So will ein Großteil des Aufsichtsrats die von Arnesen eingereichte Entscheidungsvorlage zur Vertragsverlängerung Jaroslav Drobnys auf einer außerplanmäßigen Sitzung nicht absegnen. Grund ist das aus Sicht mehrerer Kontrolleure unverhältnismäßige Millionenangebot, mit dem Ersatztorhüter Drobny zum Bleiben bewegt werden soll. So hat Arnesen dem Tschechen neben einem Zweijahresvertrag mit einem jährlichen Gehalt von 960.000 Euro zusätzlich einen gut dotierten Anschlussvertrag als Torwarttrainer im Nachwuchsbereich angeboten. Ein Unding aus Sicht einiger Räte, die daran erinnern, dass aus finanziellen Gründen im Nachwuchsbereich mehreren Trainern - zum Beispiel U17-Coach Torsten Fröhling - gekündigt wurde. Ein Veto des Aufsichtsrats, das nach Abendblatt-Informationen zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich ist, würde einem Misstrauensantrag nahekommen. Ein vergleichbarer Fall, nach dem es eine Aufsichtsratsmehrheit gegen eine Entscheidungsvorlage des Sportchefs formiert hatte, ist bislang jedenfalls nicht öffentlich geworden.
Hintergrundgespräch vor Leverkusen-Spiel
Der Vorstand, der um die Brisanz dieses Vorgangs weiß, bat die anwesenden Aufsichtsräte - nur Jürgen Hunke und Ronny Wulff waren abwesend - am Sonnabend vor dem Spiel gegen Leverkusen bereits zum Hintergrundgespräch, in dem sie die Kontrolleure zur Zustimmung bewegen wollten. Dabei ist Arnesen auch innerhalb des Vorstands nicht unumstritten. Der Hauptvorwurf: Das Preis-Leistungs-Verhältnis beim teuersten Sportchef aller Zeiten habe nie gestimmt. So müsse man Arnesen zwar den Top-Transfer René Adlers hoch anrechnen. Gleichzeitig sei der Skandinaver, der 1,8 Millionen Euro verdient, aber für eine Reihe von Transferflops verantwortlich. Die Idee, mehr Geld für einen Topmanager auszugeben, der durch intelligente Einkäufe langfristig Geld spart, sei nicht aufgegangen. So habe Arnesen in zwei Jahren rund 37 Millionen Euro ausgegeben, ohne dabei ein Team mit internationalen Ansprüchen aufzubauen. "Man muss bedenken, wo wir hergekommen sind", verteidigt sich Arnesen, "vor zwei Jahren hatten wir ein Team mit einem Durchschnittsalter von 30+, jetzt ist unser Team im Schnitt 24,5 Jahre alt. Wir mussten einen Umbruch machen."
Nun deutet alles darauf hin, dass Arnesen selbst einem Umbruch an der Spitze zum Opfer fällt. Aufsichtsratschef Ertel wollte die Vorgänge hinter den Kulissen zwar nicht kommentieren ("Zu Gerüchten äußere ich mich nicht"), seine Gespräche mit mehreren Nachfolgekandidaten wollte er allerdings auch nicht dementieren. Wie das Abendblatt erfuhr, gibt es derzeit drei Hauptkandidaten, von denen DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig der klare Favorit sein soll. Mit dem 50 Jahre alten Fußballfachmann, der in unterschiedlichen Funktionen bei Bayer Leverkusen, dem SC Freiburg, dem 1. FC Köln und in Augsburg gearbeitet hat, wurden bereits im vergangenen September erstmals konkrete Gespräche geführt, als es eine erste Führungskrise rund um Arnesen gab. Damals konnte der Däne die öffentlich gemachten Vorwürfe um Unregelmäßigkeiten bei Transfers größtenteils entkräften, sodass es keinen Grund mehr für einen vorzeitigen Wechsel gab. Dies ist nach Überzeugung mehrerer Kontrolleure nun anders.
Bereits vor einigen Wochen konterte Rettig eine direkte Nachfrage des Abendblatts, ob er sich die Sportchefrolle beim HSV vorstellen könnte, lediglich mit einem Lächeln und dem Hinweis, Derartiges grundsätzlich nicht zu kommentieren. Zu Pfingsten war Rettig, der am vergangenen Freitag bereits zu Verhandlungen in Hamburg gewesen sein soll, telefonisch nicht zu erreichen. Aus seinem Umfeld erfuhr das Abendblatt aber, dass er an einem Wechsel zum HSV, wo er sein Gehalt auf knapp eine Million Euro verdreifachen könnte, sehr großes Interesse haben soll.
Auch Jörg Schmadtke, ehemaliger Manager von Hannover 96, wird gehandelt. „So lange jemand bei einem Verein im Amt ist, werde ich solche Gerüchte nicht kommentieren“, sagte Schmadtke dem SID am Dienstag. Der Bild-Zeitung (Mittwoch-Ausgabe) bestätigte er eine Anfrage des Aufsichtsrates.
Und Arnesen? "Unser Mediendirektor Jörn Wolf hat mir morgens erstmals von all den Gerüchten berichtet", sagte Arnesen am Montagabend dem Abendblatt, "vom Aufsichtrat hat dagegen niemand mit mir gesprochen."