Urs Siegenthaler muss derzeit den Spagat schaffen, für den DFB und den HSV gleichzeitig zu arbeiten
Eppan. Wenn Urs Siegenthaler die Spieler der deutschen Nationalmannschaft auf wichtige Partien wie bei der WM in Südafrika vorbereitet, beschränkt sich der 62-Jährige nicht nur auf das Skizzieren der fußballerischen Schwächen und Stärken des Gegners, sondern er forscht nach der verborgenen Seele der Länder und ihrer Menschen, um Ansatzpunkte, gerade im mentalen Bereich, zu finden. "Wussten Sie, dass die Serben die Weißen Adler genannt werden?", fragt Siegenthaler. "Das war früher eine Freischärlergruppe, die für die Freiheit eingetreten ist. Dieser Name steht für Kampfgeist."
Wer sich mit Siegenthaler, dem künftigen Sportdirektor des HSV, an einen Tisch setzt, muss aufpassen, nicht nach wenigen Minuten dem Charme seiner Erzählungen zu erliegen. Der Schweizer zeichnet mit seinen Gedanken fast in jedem zweiten Satz farbenreiche Bilder und benutzt Gleichnisse, um sein Gegenüber zu überzeugen. Einer wie er, dessen Aufgabe es als Chefscout des Deutschen Fußballbundes ist, wie ein Trüffelschwein die Geheimnisse des Fußballs zu ergründen, lebt nicht im profanen Klein-Klein, er versucht Zusammenhänge zu erkennen und Schlüsse zu ziehen.
Seit 2005, als Siegenthaler beim DFB anfing, hat er sich zum unverzichtbaren Ratgeber für Bundestrainer Joachim Löw entwickelt. "Er war im Grunde auch der Initiator für meine künftige Aufgabe beim HSV, indem er sagte: 'Wir bräuchten auch einmal jemanden draußen.'" Der Gedanke setzte sich bei Siegenthaler fest - am 1. August beginnt sein Dienst in Hamburg, auch wenn ihn die jüngste Debatte um die Personalentscheidungen nachdenklich macht. "Man kann nicht jeden Tag die Pflanzen rausreißen und am nächsten Tag nachschauen, ob das Wachstum vorangeht", umschreibt er den selbstzerstörerisch wirkenden Prozess beim HSV.
Siegenthaler hat klare Vorstellungen über die Arbeit im HSV-Aufsichtsrat
"Sie könnten nicht propagieren, eine Philosophie wie Barcelona verfolgen zu wollen, dann nach Katalonien reisen, die Arbeit dort beobachten und in Hamburg das Modell vorstellen, um dann zu hören: 'Nein, bei uns hier geht so was nicht.'" Unausgesprochen spricht er damit die Rolle des Aufsichtsrats an. Siegenthaler würde nie direkte Kritik üben, aber wie er sich die Arbeit dieses Gremiums vorstellt, klingt durch, wenn er erneut ein Bild bemüht: "Ein Revisor, der eine Treuhandgesellschaft überprüft, schaut nicht täglich dem Buchhalter über die Schulter, er schenkt ihm die Verantwortung."
Verantwortung will Siegenthaler auch beim HSV übernehmen - und er fordert sie ein. "Der Vorstand hat mir versichert, dass noch nie in der bald 123-jährigen Geschichte des Klubs einem Mann so viel Vertrauen entgegen gebracht worden sei." Dabei will Siegenthaler als neuer starker Mann im sportlichen Bereich nicht mit der dicken Geldschatulle in Europa herumreisen. "Wir müssen beim HSV versuchen, die 17-, 18-Jährigen zu finden, einen Evra (spielt bei Manchester United, d. Red.) von übermorgen." Und diesen dann entsprechend formen, auch charakterlich, nach dem Motto "Fördern und Fordern". "Ich saß mit Joachim Löw beim Spiel von Chelsea gegen Stoke City auf der Tribüne, als Frank Lampard beim Stand von 7:0 einen Sprint über das ganze Feld ansetzte. Die Uhr zeigte 89 Minuten und 54 Sekunden. Das ist Leidenschaft, das ist die Bereitschaft zur Leistung. Genau so etwas lernt man mit 30 nicht mehr."
Ottmar Hitzfeld wollte Siegenthaler zurück in die Schweiz locken
Auch wenn Siegenthaler ständig in die Maßnahmen des HSV eingebunden ist, so gehören seine Gedanken jetzt dem DFB. Am Sonnabend reist er nach Klagenfurt, wo Slowenien gegen Kamerun und dann Neuseeland gegen Serbien spielen. Sonntag schaut er sich in Graz die Engländer gegen Japan an, Dienstag in Rotterdam Ghana gegen die Niederlande. Bereits am 4. Juni fliegt Siegenthaler nach Südafrika, um einen Tag später den ersten Gegner Australien gegen die USA unter die Lupe zu nehmen. Der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld versuchte vor nicht allzu langer Zeit, Siegenthaler zu den Eidgenossen zu lotsen. Vergeblich. Manchmal muss man für den Erfolg zwar Dinge säen, die man nicht mehr selbst ernten kann, um Siegenthaler zu zitieren. Aber in diesem Fall soll beides funktionieren.