Urs Siegenthaler wird doch nicht Vorstand beim HSV. Kommt sein Landsmann Christian Gross als Trainer? Im Vereinsumfeld wird er gehandelt.
Hamburg. Für Urs Siegenthaler ist das Elysée-Hotel in den letzten Tagen fast so etwas wie ein zweites Zuhause geworden. Auch gestern kam der Schweizer wieder in die Nobelherberge an der Rothenbaumchaussee. Stundenlang debattierte der 62-Jährige mit den Mitgliedern des Aufsichtsrates über seine Zukunft beim HSV. Um 20.04 Uhr ließ sich der designierte Sportchef in einem dunkelblauen Audi A3 von einem HSV-Mitarbeiter Richtung Flughafen chauffieren. Zurück ließ er die Aufsichtsräte, die Vorstände Bernd Hoffmann und Katja Kraus - und jede Menge Fragezeichen.
Auch knapp elf Monate nach der Demission des ehemaligen Sportvorstands Dietmar Beiersdorfer ist die personelle Besetzung dieser Schaltstelle in der Führung des Traditionsklubs völlig offen. Alles zurück auf Anfang - die Suche beginnt erneut. Denn Urs Siegenthaler zieht nun doch nicht in den Vorstand ein. Dieser Schritt war im Vorfeld der Sitzung eigentlich erwartet worden. Schließlich hatte Siegenthaler bei seinem Besuch am Anfang der vergangenen Woche in Hamburg seine Bereitschaft zu diesem Schritt hinterlegt. Denn mehrere Aufsichtsräte hatten ultimativ gefordert, dass der neue Sportchef mit dem Rang eines Vorstandes in die Führung wechseln muss. Aufsichtsratschef Horst Becker hatte im Vorfeld der gestrigen Sitzung das Vorstands-Modell mit Bernd Hoffmann und Katja Kraus als Sportverantwortliche für "gescheitert" erklärt: "Das muss man zugeben, das müssen wir kritisch hinterfragen."
Dass sich Siegenthaler mit dem Aufsichtsrat nicht auf den Einzug in den Vorstand einigen konnte, hat offenbar mehrere Gründe. So missfiel einigen Räten, dass Siegenthaler auch nach der WM weiter für den DFB arbeiten will - dort ist er als Chefscout beschäftigt. Zudem gab es nach Abendblatt-Informationen Diskussionen, ob der Schweizer mit seinem neuen Job auch seinen Wohnsitz komplett nach Hamburg verlegen müsste.
mmer mehr kristallisiert sich heraus, dass die ursprünglich angedachte Job-Beschreibung Siegenthalers mit den neuen Anforderungen nicht mehr übereinstimmt. Als Ende des vergangenen Jahres in der HSV-Führung die Idee entstand, es mit einem neuen Sportchef-Modell zu versuchen, war die Welt beim Traditionsverein noch völlig in Ordnung. Der HSV wähnte sich nach einer guten Hinrunde auf Kurs Champions League. Siegenthaler sollte sich zur neuen Saison um zwei zentrale Baustellen des Klubs kümmern: um die desaströse Nachwuchsarbeit und die schwächelnde Scouting-Abteilung. Genau dafür gilt der Schweizer als international anerkannter Fachmann. Ein Arbeitsplatz, wo man vor allem im Hintergrund arbeiten kann. Genau dies wollte Siegenthaler auch. Wiederholt erklärte er: "Ich möchte nicht zu jedem tagesaktuellen Thema Stellung nehmen."
IZwischen Idee und geplanter Realisierung verstrichen jedoch Monate. Und genau in diesem Zeitfenster rutschte der HSV in die schwere Krise der Rückrunde. Am Ende stand eine Saison ohne internationalen Startplatz - und ohne den Traum vom Finale im eigenen Wohnzimmer, das nun morgen Atlético Madrid und der FC Fulham im Endspiel der Europa League bestreiten werden. Und in der Endphase entließ der HSV auch noch Trainer Bruno Labbadia - kein Wunder, dass in der Misere der Ruf nach einem echten Sportchef im Aufsichtsrat immer lauter wurde. Wohl eher um des lieben Friedens willen signalisierte Siegenthaler dann zwar, dass er sich auch ein Vorstandsamt vorstellen könne. "Ich habe nur angeboten, dem Vorstand beizutreten, wenn dadurch Probleme gelöst werden können", ließ er denn auch nach der gestrigen Sitzung erklären. Und fügte hinzu: "Der Titel ist völlig nebensächlich. Die Arbeit ist entscheidend."
Und was kommt jetzt? Klar ist, dass der Aufsichtsrat weiter auf einem echten Sportchef besteht. Chefkontrolleur Horst Becker erklärte gestern: "Den Sportchef sucht der Aufsichtsrat, nicht der Vorstand." Die Frage bleibt, wie sich Siegenthaler jetzt verhalten wird. Noch vergangene Woche hatte er erklärt: "Wenn noch einer kommt, bin ich weg." Das birgt großes Konfliktpotenzial.
Zudem ist Siegenthaler in den nächsten Wochen beim Unternehmen Weltmeisterschaft komplett gefordert. Er wird Gegner der deutschen Mannschaft beobachten, Bundestrainer Joachim Löw taktisch beraten. Bleibt da noch die Zeit, intensiv nach neuen Spielern für den HSV zu fahnden - und vor allem nach einem neuen Trainer? Der Zeitdruck zeigte sich gestern schon. Siegenthaler verließ die Sitzung um 20 Uhr, um noch die Abendmaschine mit Easy Jet um 21 Uhr nach Basel zu bekommen. Schließlich fliegt er morgen mit dem Nationalteam ins Regenerations-Trainingslager nach Sizilien.
Damit steht der HSV in einer schwierigen Situation weiter ohne klare Führung im sportlichen Bereich da. In einer Phase, wo es darum geht, welche Spieler kommen - und welche Spieler gehen müssen. Und es geht dabei um überaus prominente Namen. Etwas um Zé Roberto, der den HSV gern in Richtung Red Bull New York verlassen möchte. Oder um Paolo Guerrero, der mit dem Verein um einen neuen Vertrag pokert. Und um Piotr Trochowski, der seinen bis 2011 laufenden Vertrag gern erfüllen möchte.
Vor allem aber geht es um die Besetzung des Trainerjobs. Hier erscheint derzeit fast alles möglich. Von einer Beförderung von Interimstrainer Ricardo Moniz, die von mehreren Spielern gefordert wird - bis zu einer Lösung mit einem erfahrenen Trainer. Hier wird im Vereinsumfeld Christian Gross gehandelt. Der Trainer machte aus dem VfB Stuttgart die Überraschungsmannschaft der Rückrunde, hat aber große Schwierigkeiten mit Klub-Manager Horst Heldt. Und Gross ist Schweizer - genau wie Urs Siegenthaler. Das würde passen. Doch die Frage bleibt: Wie sehr passt Siegenthaler jetzt noch zum HSV?