Mustafi und Schweinsteiger treffen zum 2:0 gegen die Ukraine. Die Souveränität des Weltmeisters fehlt zum Auftakt aber noch.
In 700 Tagen kann einiges passieren. Man kann zum Beispiel zwei Kinder bekommen oder ein halbes Studium absolvieren. Und man kann irgendwo auf der Strecke dieser 700 Tage die Souveränität eines Weltmeisters verlieren. Exakt 700 Tage war das gewonnene WM-Finale von Brasilien her, als die deutsche Nationalelf gegen die Ukraine in die EM einstieg. 700 Tage zwischen Rio de Janeiro und Lille, in denen der Weltmeister oft wie eine unausgeschlafene Version von sich auftrat und Zweifel aufwarf, ob er sich auch bald Europameister wird nennen können. Deutschland gewinnt sein Auftaktspiel gegen die Ukraine dank der Treffer von Shkodran Mustafi und Bastian Schweinsteiger zwar mit 2:0. Aber die Souveränität fehlte noch beim Start.
„Eigentlich war nicht geplant, dass Schweinsteiger so weit vorne auftaucht. Das 2:0 war dann der Genickbruch für Ukraine. Es ist wichtig von seiner Persönlichkeit, seiner Erfahrung, er kann einer Mannschaft viel geben. Ein Bastian Schweinsteiger ist Gold wert. Es war schon einige Mal gefährlich für uns, aber wir haben es insgesamt zufriedenstellend gemacht“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Es war zum Teil auch ein offenes Spiel, es war ein englisches Spiel. Es ging hin und her, was wir eigentlich nicht wollten“, sagte Torschütze Mustafi.
Götze setzt sich gegen Gomez durch
Die 50.000 Zuschauer im Stade Pierre Mauroy von Lille – darunter 20.000 deutsche Fans – sahen, wie das Team von Joachim Löw zwar in der Offensive bisweilen Erbauliches zu bieten hatte, aber in der Defensive erschreckend wackelig wirkte. Bei Gegnern einer größeren Güte als das wackere Team des ukrainischen Coachs Michail Fomenko dürfte das zu wenig sein. Zum Beispiel am Donnerstag in Paris im zweiten Gruppenspiel gegen Polen, das sein Auftaktspiel gegen Nordirland zuvor mit 1:0 gewonnen hatte.
Einzelkritik: Kroos der unumstrittene Chef, Neuer mit starken Paraden
Der Bundestrainer hatte in den Tagen vor dem ersten deutschen Auftritt aus seiner Aufstellung ein mittelgroßes Staatsgeheimnis gemacht. Am Ende kam alles so wie erwartet: Rechts in der Viererkette begann Benedikt Höwedes, vorn Mario Götze statt Mario Gomez, und im Abwehrzentrum ersetzte Mustafi den noch nicht wieder spieltauglichen Mats Hummels. Mustafi wollte dann offenbar auch spielen wie Hummels, was er besser sein lässt: Kaum waren vier Minuten vergangenen, ging der Valencianer ins Dribbling, verlor den Ball prompt, und Jewhen Konopljanka prüfte Manuel Neuer das erste Mal.
Mustafi wuchtet den Ball ins Netz
Aber Mustafi hatte sich vorgenommen, auch vorn den Hummels zu geben. Der ist bekannt für seine Kopfballstärke. Vor mehr als 700 Tagen beim deutschen Auftaktspiel der WM gegen Portugal traf Hummels nach einem Standard von Toni Kroos mit dem Schädel. Also? In der Gegenwart von Lille lief Kroos zum Freistoß an, hob ihn in den ukrainischen Strafraum, und Mustafi köpfte wuchtig zum 1:0 (19.).
Es war sein erstes Länderspieltor (im elften Einsatz) und eine schöne Bestätigung für Löw: Früher mögen Freistöße und Ecke für den Ästheten nur Mittel für Minderbegabte gewesen sein: In der 19-tägigen EM-Vorbereitung ließ der 56-Jährige aber nun mit einer neuen Trainingsform verstärkt an Standards werkeln: Das zahlte sich gegen die Ukraine aus.
So schön das vorn manches Mal aussah, defensiv zeigte Löws Elf weiter enorme Anfälligkeiten wie in den vergangenen 700 Tagen: Bei gegnerischen Standards – Jewhen Chatscheridi zwang Neuer zur Parade (27.) – ebenso wie aus dem Spiel heraus: Neuer war schon geschlagen, da warf sich Jerome Boateng in einen Schuss und schabte im Fallen noch das Spielgerät von der Linie (37.). Andere hätten sich dabei sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Boateng verzog keine Miene.
Schweinsteiger trifft mit erstem Ballkontakt
Löw darf sich nun als doppelter Rekordhalter fühlen: Mit der Partie gegen die Ukraine kommt er auf zwölf EM-Spiele und lässt damit Berti Vogts (elf) hinter sich. Und er ist nun der erste Trainer, der dreimal in Folge mit seiner Mannschaft beim paneuropäischen Turnier dabei war. Einmal im Finale (2008) und einmal im Halbfinale (2012) war für Löw bei seinen beiden EM-Turnieren bisher Schluss. Nun hätte er es gern, dass zu den zwölf EM-Partien in seiner Vita noch sechs weitere dazukommen würden – inklusive EM-Finale am 10. Juli in Saint-Denis. Aber dafür muss seine Mannschaft an Stabilität gewinnen.
Wieder musste Neuer, von Löw als Kapitän bestimmt, retten: Rakizki hatte es per Freistoß versucht (57.). Vorn vergaben Julian Draxler (69.) per Kopf und Thomas Müller (75.) aus der Entfernung die Chance, Löw einen entspannteren Restabend zu schenken. Und auch dem eingewechselte André Schürrle gelang ebenso nicht das 2:0 (82. und 84.) wie Mesut Özil (87.). Erst der in 90. Minute eingewechselte Bastian Schweinsteiger sorgte nach Vorlage von Özil mit seinem ersten Ballkontakt für die Entscheidung.
„Der Weg nach dem Jubel war lang, ich bin ein bisschen außer Atem. Es war unglaublich, dass es so etwas gibt, kann man sich nur wünschen. Das Wichtigste ist, dass die Mannschaft gewinnt,“ sagte ein zufriedener Schweinsteiger. Ausgerechnet der Kapitän erlöste Deutschland! Wenn das keinen Schwung für die kommenden Aufgaben gibt.
Die Statistik
Deutschland: Neuer – Höwedes, Mustafi, Boateng, Hector – Kroos, Khedira – Müller, Özil, Draxler (Schürrle 78.) – Götze (90. Schweinsteiger)
Ukraine: Pjatow – Fedezki, Chatscheridi, Rakizki, Schewtschuk – Sidortschuk, Stepanenko – Jarmolenko, Kowalenko (74. Sintschenko), Konopljanka – Sosulja (64. Seleznew)
Tore: 1:0 Mustafi (19.), 2:0 Schweinsteiger (90.+2)
Schiedsrichter: Martin Atkinson (England)
Zuschauer: 49.000
Gelbe Karte: Konopljanka
Torschüsse: 18:6
Ecken: 6:12
Ballbesitz: 66:34 %