Madrid/Hamburg. Hitzfeld und andere staunen über Nicht-Nominierung Thomas Müllers. Rasendebatte und Mentalitätsfrage. Rummenigge kämpferisch.
Es ist eigentlich kaum zu glauben: Auch im dritten Jahr in Folge ist es Startrainer Pep Guardiola mit dem FC Bayern München nicht gelungen, im Hinspiel eines Halbfinales der Champions League bei einem spanischen Verein ein Tor zu erzielen und somit eine gute Ausgangsposition für das Rückspiel zu schaffen. Gegen Atlético Madrid setzte es am Mittwochabend eine aufgrund einer unerklärlich schwachen ersten Halbzeit verdiente 0:1 (0:1)-Niederlage. Das Tor für den Titelaspiranten der Primera Division schoss 1:0 Saul Niguez bereits in der 11. Minute.
Guardiola überraschte mit seiner Startaufstellung, in der er seine vier spanischen Landsleute Juan Bernat, Javi Martínez, Thiago und Xabi Alonso aufbot, Bayern-Ikone Thomas Müller sowie Franck Ribéry dagegen auf der Bank ließ. Das Experiment misslang, die abermals umformierte Bayern-Elf lieferte in den ersten Hälfte eine für ein Halbfinale unwürdige Leistung ab und erstaunte mit etlichen Fehlpässen, Stockfehlern sowie auffallender Passivität. Diese legte der deutsche Rekordmeister erst im zweiten Durchgang ab. Doch mehr als ein Lattentreffer aus der Distanz von David Alaba sprang nicht dabei heraus.
Atlético hat damit beste Chancen, am kommenden Dienstag (20.45 Uhr, ZDF) ins Finale von Mailand einzuziehen. In der Allianz Arena genügt Madrid womöglich schon ein Tor - denn dann müssten die Münchner gegen die aktuell beste Abwehr Europas schon mindestens drei Treffer erzielen.
Bayern verliert gegen Madrid
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Müller: "Nicht nach vorne rennen wie kleine Kinder"
"Ich bin schon verärgert, dass wir kein Tor erzielt haben“, sagte Thomas Müller in den Katakomben des Atlético-Stadions. Spieler wie er sehen sich jetzt gefragt, um das Endspiel in Mailand doch noch zu erreichen. Aus seinem Frust - auch über seine Nicht-Nominierung - schöpft Müller Motivation: "Wir werden die Emotionen gut umwandeln und in München richtig einen raushauen.“ Kapitän Philipp Lahm setzt auf seinen besten Kumpel im Team: "Ich bin mir sicher, dass Thomas Müller noch ein Tor macht im Halbfinale.“ Allerdings sollten die Bayern bei ihrem Sturmlauf kühlen Kopf bewahren, das weiß auch Müller: "Wir müssen zielstrebig nach vorne spielen, dürfen aber nicht blind nach vorne rennen wie kleine Kinder", sagte der Weltmeister.
Spanische Pressestimmen
Die ersten Pressestimmen sind da - die Spanier sind voll des Lobes über Atlético und seinen Torschützen Saul:
Pressestimmen zu Atlético gegen Bayern
Bayerns Heimsiegesserie als Mutmacher
Nach dem 0:1 im Hinspiel darf der FC Bayern seine eindrucksvolle Siegesserie bei Heimspielen in der Champions League als Mutmacher nehmen. Elf Partien nacheinander gewann der deutsche Rekordmeister zuletzt in München - und das bei einem Torverhältnis von 41:6.
Böse Erinnerungen werden aber bei dem Hinspiel-Ergebnis vom Mittwochabend auch wach. Die letzte Heimpleite gab es beim 0:4 am 29. April 2014 gegen Real Madrid. Es war die höchste Niederlage überhaupt in den bislang 102 Heimspielen des FC Bayern in der Champions League. Damals hatte das Team von Trainer Pep Guardiola auch mit 0:1 in der spanischen Hauptstadt das Hinspiel verloren.
Bayerns Siegesserie in K.o.-Heimspielen
Hitzfeld vergleicht Müller mit Messi
Der ehemalige Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld hat in seiner Funktion als Sky-Experte die Entscheidung, Thomas Müller nicht von Beginn an spielen zu lassen, überrascht kommentiert: „Das ist für mich eine riesige Überraschung. Müller ist für Bayern wie Messi für Barcelona. In ganz wichtigen Spielen sind die fast nicht zu ersetzen. Aber Guardiola ist ein mutiger Trainer.“
Neue Top-Quote fürs ZDF
Wenigstens das ZDF darf sich freuen: Im Schnitt 11,60 Millionen Zuschauer verfolgten die Bayern-Pleite live. Bei einem Marktwert von 36,8 Prozent bedeutet dieser Wert nicht nur die Top-Quote am Mittwoch, sondern auch die Bestmarke in der laufenden Champions-League-Saison. Diese lag zuvor bei 10,21 Millionen Zuschauern (32,8 Prozent). So viele hatten das Viertelfinalrückspiel der Bayern bei Benfica Lissabon eingeschaltet (2:2). Dabei war erstmals die Zehn-Millionen-Marke geknackt worden.
Beim Abo-Sender Sky schalteten noch einmal 730.000 Zuschauer ein, die Fans beim Public Viewing in den Fußballkneipen nicht eingerechnet. Damit lagen die Bayern allerdings etwas unter dem Vorjahreswert vom Halbfinale gegen den FC Barcelona, als mehr als 13 Millionen das Hinspiel sahen.
Guardiola: "Sehr viel über erste Minuten gesprochen"
Auch Pep Guardiola zeigte sich wenig erbaut über die ungenügende Anfangsphase seiner Mannschaft. Bei "Sky" sagte Bayerns Trainer: "Wir haben in den letzten Tagen sehr viel über die ersten Minuten von Atlético gesprochen. Aber wir haben es nicht gut gemacht. In der Champions League musst du auf diesem Niveau auch in den ersten Minuten gut spielen. Die letzten 25 Minuten in der ersten Halbzeit waren dann schon gut. Insgesamt gehörten uns hier 75 Prozent des Spiels. Wir hatten auch genug Torchancen. Aber Atlético hat eine große Qualität, das ist eine tolle Mannschaft.“
Lahm alleiniger Rekordhalter
Kapitän Philipp Lahm ist durch seinen 104. Einsatz in der Champions League alleiniger deutscher Rekordspieler in der Königsklasse. Bis dato hatte er sich die Spitze mit dem ehemaligen Bayern-Torhüter Oliver Kahn mit jeweils 103 Einsätzen geteilt. Am 13. November 2002 hatte der heute 32 Jahre alte Lahm im Münchner Olympiastadion gegen RC Lens (3:3) sein Debüt gegeben.
International liegt Lahm auf dem 23. Rang und damit einen vor Kahn. Platz eins hat der spanische Nationaltorhüter Iker Casillas (ehemals Real Madrid, aktuell FC Porto) mit 156 Einsätzen inne.
Lahms Höhepunkt in der Königsklasse war 2013 der Triumph von Wembley durch das 2:1 gegen Borussia Dortmund. Er habe "das eine oder andere schwere Spiel erlebt", sagte Lahm, besonders gegen den BVB sei es "enorm schwierig" gewesen: "Der Druck war riesig." 2018 will der Kapitän seine Karriere beim FC Bayern beenden.
Rummenigge auf dem Bankett kämpferisch
Karl-Heinz Rummenigge hat der Mannschaft in seiner Bankettrede nach der Niederlage Mut für das Rückspiel zugesprochen. "Es wird kein einfaches Spiel in München, aber wir würden einen Fehler machen, wenn wir mit dem Ergebnis hadern würden. Ich möchte eins sagen: Ich möchte nach Mailand!“, sagte Bayerns Vorstandsvorsitzender in der Nacht. "Mit dem Ergebnis hat man uns ohne Frage einen Stein in den Weg gelegt. Aber ich glaube, es gibt eine gute Gelegenheit am nächsten Dienstag, diesen Stein auch wieder aus dem Weg zu räumen und es dann zu schaffen, dass wir unser großes Ziel, unseren großen Traum weiterleben“, sagte Rummenigge mit Blick auf den Titelgewinn.
"Wir haben in der zweiten Halbzeit gesehen, welche Qualität und welchen Charakter unsere Mannschaft hat“, erklärte Rummenigge in seiner Ansprache vor geladenen Fans und Sponsoren, die auf der Internetseite des Vereins veröffentlicht wurde. Medien haben zum Bankett nach Europapokalspielen keinen Zugang mehr.
Rummenigge übermittelte zum Abschluss der Rede Genesungswünsche an Sportvorstand Matthias Sammer, der wegen Durchblutungsstörungen des Gehirns in Madrid fehlte und noch länger pausieren muss. "Er hat leider gesundheitliche Probleme, die aber unter Kontrolle sind, gar kein Problem. Er treibt wieder Sport“, berichtete Rummenigge.
Guardiolas ernüchternde Auswärtsbilanz
In der im Sommer endenden Amtszeit konnte Pep Guardiola mit den Bayern in der Champions League nur eines von neun K.o.-Spielen auswärts gewinnen. Im Achtelfinale 2014 siegte der deutsche Rekordmeister in London beim FC Arsenal mit 2:0. Seitdem verbuchten die Münchner vier Unentschieden und mit dem 0:1 am Mittwochabend bei Atlético Madrid auch vier Niederlagen.
Guardiolas K.o.-Auswärtsbilanz bei Bayern
Müller unglücklich wegen Nicht-Nominierung
Weltmeister Thomas Müller wollte aus seiner überraschenden Nichtberücksichtigung keine große Nummer machen. "Darüber ist man nicht glücklich. Aber für Enttäuschung ist, wenn man als Team erfolgreich sein will, in so einem Moment wenig Platz. Das war halt so", sagte der 26-Jähriger nach dem Spiel gelassen.
Es sollten vielmehr alle schauen, "dass wir unsere Emotionen im Griff haben", fügte Müller an: "Wenn alle, die draußen sitzen, ein Gesicht ziehen, hilft das keinem weiter." Allerdings erweckte die Bayern-Ikone nach seiner späten Einwechslung auch nicht unbedingt den Eindruck, dem Spiel noch auf Biegen und Brechen eine Wende geben zu wollen. Zumindest verzichtete Müller auf sonst bei ihm übliche Einpeitscher-Gestik.
Trainer Pep Guardiola hatte in seiner Startelf zur Verwunderung vieler auf Müller, aber auch auf Franck Ribéry verzichtet. Dafür bot er zunächst Thiago und Kingsley Coman auf. "Ich wollte einen Linksfuß auf links und einen Rechtsfuß auf rechts haben. Und ich wollte einen Mittelfeldspieler mehr haben", begründete Guardiola bei Sky seine erfolglose Maßnahme. Vielleicht gebe es nächste Woche beim Rückspiel in München (3. Mai) "wieder eine neue Option".
Im Estadio Vicente Calderón wechselte Guardiola Müller erst in der 70. Minute für Thiago ein. Ribéry hatte er sechs Minuten zuvor für Coman gebracht. Eine Wende konnten aber auch die beiden arrivierten Offensivspieler der Partie nicht mehr geben.
Dies sei "Sache des Trainers. Es waren trotzdem sehr gute Spieler auf dem Platz", meinte Torwart Manuel Neuer zu Guardiolas Wechseln. Auch Kapitän Philipp Lahm sah keinen Grund zur Kritik: "Wir haben einen breiten Kader mit viel Qualität, das entscheidet immer der Trainer, wer spielt."
Bayerns Co-Trainer Hermann Gerland erklärte Guardiolas Maßnahme schon vor dem Spiel so: "Sie (Thomas Müller und Franck Ribéry/Anm.d.Red.) haben zuletzt sehr viel gespielt. Franck hatte auch leichte Probleme, er musste gestern das Training abbrechen. Es passiert ja häufiger mal, dass ein Spieler draußen bleibt, wo man nicht mit rechnet. Heute sind das der Thomas und der Franck. Beide können ja eingewechselt werden. Müller ist immer locker, aber ich denke nicht, dass er vor Freude gesprungen ist.“
Kahn stellt die Mentalitätsfrage (nicht)
Nach bald acht Jahren als TV-Experte weiß Oliver Kahn genau, wie er als verdienter Spieler gegen seinen Ex-Verein sticheln kann und gleichzeitig die Form wahrt. Und so griff Kahn schon in der Halbzeitpause tief in die rhetorische Trickkiste. "Ich will da jetzt keine Mentalitätsdiskussion beginnen", sagte der frühere Welttorhüter im ZDF - und erreichte damit natürlich genau das Gegenteil: Den Anstoß einer Debatte. Die drehte sich vor allem im Netz darum, ob die Bayern mit einer ungenügenden Einstellung ins Spiel gingen.
Diese Frage wurde auch Manuel Neuer zwar nicht direkt gestellt, er ging aber selbst darauf ein. "Wir waren sehr gut eingestellt auf Atlético", sagte der Münchener Torhüter und gestand allerdings: "Wir haben in der ersten Halbzeit die Aggressivität und den Mut vermissen lassen. Das hat uns gefehlt." Kahn befand schließlich: "Wenn ich in diesem Stadion bestehen will gegen diese Mannschaft, dann muss ich die Zweikämpfe auch wirklich führen wollen."
Spanisches Experiment ging schief
Guardiolas spanisches Experiment ist gründlich schiefgegangen. Vor allem beim Gegentreffer spielten drei der vier Münchener Spanier eine Hauptrolle - indem sie nur Statisten waren. Nacheinander ließen Thiago, Xabi Alonso und Juan Bernat den anschließenden Torschützen Saul gewähren, dessen Schuss schließlich auch Javi Martínez im Strafraum nur noch hinterher blicken konnte. "Wenn man da Foul spielt, dann hätte es Freistoß gegeben", sagte Kapitän Philipp Lahm hinterher zum ZDF-Duo Jochen Breyer und Oliver Kahn. "Und wenn da ein Tor fällt, dann sagen sie: 'Es waren genug Spieler da'."
Annäherungsversuche in Richtung Atlético-Profis hatte Javi Martínez nur vor dem Anpfiff gestartet, doch Fernando Torres etwa ließ sich schon dadurch nicht einlullen und nahm die Umarmung seines Landsmanns eher halbherzig an. Somit bleibt zumindest für zwei bayerische Spanier die Bilanz gegen Atlético negativ: Javi Martínez kassierte mit Atletic Bilbao zuvor insgesamt acht Niederlagen gegen Madrid (bei fünf Siegen), davon vier auswärts. Juan Bernat waren mit dem FC Valencia gegen "Atléti" lediglich drei Unentschieden (bei zwei Niederlagen) gelungen. Positiver sieht es bei Xabi Alonso aus: In den Stadtduellen behielt er mit Real 15 Mal die Oberhand (bei fünf Unentschieden und drei Niederlagen).
Guardiola lässt Rasen-Kritik nicht gelten
Pep Guardiola hat die Kritik seiner Profis am stumpfen Rasen im Estadio Vicente Calderón zurückgewiesen. "Der Rasen ist der Rasen. Wir müssen uns anpassen. Wenn die Uefa das akzeptiert, dann müssen wir das auch akzeptieren", sagte Guardiola bei Sky.
Die Spanier hatten nicht, wie es sonst meist üblich ist, den Platz vor dem Anpfiff und in der Halbzeitpause noch einmal kräftig gewässert. Der Platz nehme deshalb, "vor allem bei Kopfballaufsetzern, ein bisschen Gas aus dem Ball. Wenn der aufkommt, musst du aufpassen, dass er dir nicht wieder ins Gesicht zurückspringt", sagte Thomas Müller mit einem Schmunzeln zu den für die Bayern ungewohnten Gegebenheiten. "Wir sind mit dem Platz überhaupt nicht zurecht gekommen", sagte David Alaba.
Beim Rückspiel in der Allianz Arena werde dem FC Bayern der Platz dann wieder "zugute kommen. Wir können den Ball schneller bewegen. Die langen Bälle von Atlético hinter die Abwehr werden auch nicht immer ankommen, wenn der Rasen nass ist", meinte Müller.
Auch für Torwart Manuel Neuer ist es "gut, dass wir Wasser auf den Platz machen können, dass der Ball schneller laufen kann. Der Ball blieb hier stehen."
Boateng-Comeback gegen Gladbach?
Guardiola hofft auf ein Comeback von Jérôme Boateng im Bundesliga-Spiel gegen Borussia Mönchengladbach am Sonnabend. "Ich hoffe, er kann ein paar Minuten spielen. Aber ich weiß es nicht“, sagte Guardiola im ZDF. In Madrid stand Boateng, der wegen einer schweren Muskelverletzung drei Monate ausgefallen war, noch nicht wieder im Kader. Die Bayern können mit einem Sieg gegen Gladbach die vierte deutsche Meisterschaft in Serie perfekt machen.
Statistik
Madrid: Oblak - Juanfran, Gimenez, Savic, Filipe Luis - Gabi, Fernandez - Saul (85. Thomas), Koke - Griezmann, Torres. - Trainer: Simeone
München: Neuer - Lahm, Martinez, Alaba, Bernat (77. Benatia) - Alonso - Thiago (70. Thomas Müller), Vidal - Costa, Coman (64. Ribery) - Lewandowski. - Trainer: Guardiola
Schiedsrichter: Mark Clattenburg (England)
Tor: 1:0 Saul (11.)
Zuschauer: 52.127
Gelbe Karten: Saul (2) - Costa (2), Benatia, Neuer, Vidal (3)
Erweiterte Statistik (Quelle: deltatre):
Torschüsse: 11:19
Ecken: 5:5
Ballbesitz: 31:69 %