Felix Magath, der vor vier Jahren Italien als Weltmeister vorhergesagt hatte, über die Chancen der deutschen Elf und seine WM-Favoriten.
In den vergangenen Monaten bin ich immer wieder bedrängt worden, Joachim Löw den einen oder anderen Spieler ein- oder auszureden. Wie ich vom Bundestrainer erwarte, dass er die Arbeit und die Entscheidungen der Bundesligatrainer respektiert, bringe ich ihm diese Wertschätzung ebenfalls entgegen. Jeder Trainer hat seine Vorstellung zur Spielweise seiner Mannschaft, zum Personal, das er zur Umsetzung braucht. Hinzu kommen bei Turnieren wie Welt- und Europameisterschaften, in denen Spieler inklusive Vorbereitung bis zu zwei Monate aufeinander hocken, Kriterien wie psychische Stabilität und soziale Kompetenz. Löw wird deshalb wissen, warum er Miroslav Klose, dem WM-Torschützenkönig von 2006, das Vertrauen schenkt, auch wenn es von außen betrachtet riskant erscheint, einen Stürmer in die WM zu schicken, der sich in der Saison kein Selbstvertrauen holen konnte. Es bleibt zu hoffen, dass Klose robust genug ist, Krisen im Spiel auszuhalten; und das kann die erste vergebene Torchance sein, die neue Selbstzweifel nährt. Andererseits ist er ein Profi, der den Tauglichkeitstest auf internationaler Bühne bestanden hat. Bei einer WM zählt Erfahrung zum Fundament erfolgreicher Mannschaften.
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Mit dem Ausfall unseres Kapitäns Michael Ballack haben wir Erfahrung verloren. Dessen überragende fußballerische Fähigkeiten und seine Akzeptanz im Team werden wir vermissen. Sein Ausfall eröffnet auch Chancen. Ballack hat mit seiner Präsenz auf dem Feld, als Persönlichkeit und Anspielstation, die Entfaltungsmöglichkeiten seiner Nebenleute eingeschränkt. Das bitte ich nicht falsch zu verstehen. Ballack hat seine Mitspieler nicht kleingehalten, sie haben ihn als Leader gesucht und sich im Sinne der Mannschaft ein- und zum Teil untergeordnet. Das war gewollt. Jetzt müssen Bastian Schweinsteiger und der neue Kapitän Philipp Lahm Führung übernehmen, und beide haben in den letzten Vorbereitungsspielen bewiesen, dass sie dieser Aufgabe gewachsen sind. Den Verlust Ballacks werden sie, die gesamte Mannschaft, zu kompensieren wissen, indem sie nun verstärkt eigene Impulse setzen.
DIE ZEHN WICHTIGSTEN FRAGEN ZUR WM
Die Vorteile junger Mannschaften, und wir haben eine der jüngsten in Südafrika, sind ihre Unbekümmertheit, ihre Lust am Spiel nach vorn, ihr Spaß am Offensivfußball, Laufbereitschaft, Einsatzwille und Belastbarkeit. Eine Kostprobe davon haben wir beim 3:1 gegen Bosnien-Herzegowina gesehen. Ich traue diesem Team eine Menge zu, konkret das Halbfinale. Von der individuellen Klasse her brauchen sich unsere Spieler vor den Weltstars anderer Nationen nicht zu verstecken. Unbekümmertheit birgt wiederum die Gefahr, Spielsituationen zu optimistisch einzuschätzen. Nachlässigkeiten in der Defensive, beim Zurücklaufen, mangelnde Umsicht im Zweikampf oder beim Abspiel sind dann potenzielle Fehlerquellen. Wenn wir nach dem Gruppensieg, von dem ich ausgehe, vom Viertelfinale an auf die Großen des Weltfußballs wie Argentinien treffen, wird sich zeigen, wie weit wir in unserer Entwicklung sind. Die Erfolge unserer Nachwuchsmannschaften in den verschiedenen Europameisterschaften und die der Bundesligavereine in Champions- und Europa League sind Mut machende Signale, dass sich der deutsche Fußball auf dem richtigen Weg befindet. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren aus den Fehlern der Neunziger gelernt, sind professioneller im Handeln und Denken geworden - in vielen Bereichen noch nicht professionell genug -, haben Strukturen verbessert und uns vor allem gezielter um Talentsichtung und -förderung gekümmert. Das beginnt sich auszuzahlen.
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Für den Gewinn des Titels fehlt der deutschen Mannschaft die nötige Reife. Weltmeister werden die Engländer. Für sie spricht der Trainer. Besser als unter Fabio Capello haben sie nie gespielt. Da erkennt man System, Strukturen, Spielidee, Aufgabenverteilung. Selbst den Ausfall ihres Kapitäns Rio Ferdinand werden sie verkraften. Capello weiß mit seinen Mannschaften zu brillieren, aber auch staubtrocken Führungen zu verteidigen. Ähnliche Achtung genießt bei mir Carlos Dunga. Der brasilianische Nationaltrainer hat verstanden, mit Künstlern ein Kollektiv zu formen. Dass er wie fast alle Kollegen bei der WM Sympathie für defensive Grundordnungen hegt, hat ihn im eigenen Land heftiger Kritik ausgesetzt. Brasilianer wollen Zauberfußball sehen. Dunga bietet nur zauberhafte Ergebnisse.
Was ist mit den Spaniern? Der Europameister gehört zu meinen drei Favoriten, doch ihm könnte ein bisschen jener Selbstverständlichkeit abhandengekommen sein, mit der er zwischen 2006 und 2009 von Erfolg zu Erfolg eilte. Die Spanier wurden von einer Welle der Euphorie getragen, die verebbt scheint. Das droht der entscheidende Mosaikstein zu werden, der sie in Südafrika den großen Triumph verpassen lässt. Das Potenzial zum Titel hat das Team wie England und Brasilien.
Weil ich die Engländer hoch einschätze, traue ich Wayne Rooney die Rolle des Superstars zu. Er wird den Tick effizienter sein als Lionel Messi, der im argentinischen Nationaltrikot selten den Glanz seiner Auftritte beim FC Barcelona verbreitet. Während er bei den Katalanen antizipiert, wie seine Mitspieler reagieren, wo und wann sie ihm Wege freisperren und er sich ganz auf seine Automatismen verlassen kann, wirkt er in der Nationalelf verunsichert. Das mag daran liegen, dass er sich nicht allein auf sein Dribbling konzentrieren kann, sondern auch Raum und Gegner im Blick haben muss. Gelingt es den Argentiniern, Messi wie in Barcelona in Szene zu setzen, rücken sie in die Rolle des vierten Favoriten auf.