Bundestrainer Löw denkt nach dem Ausfall von Heiko Westermann über die Besetzung seines 23-köpfigen WM-Kaders neu nach.
Eppan. Mit ihren von der Sonne angestrahlten, blütenweißen Trikots sahen die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, die wie immer ruhig und konzentriert ihre Übungen ausführten, beinahe unschuldig aus. Und richtig voll sah es auf dem gepflegten Rasenplatz der Sportzone Rungg in der Gemeinde Eppan außerdem aus. Nachdem sich die Bayern-Profis entstressen durften, hatte Joachim Löw am 20. Tag (!) der Vorbereitung erstmals sein komplettes Team auf dem Platz Beziehungsweise das, was davon übrig geblieben ist.
Nichts also deutete auf die interne Alarmstimmung beim DFB hin - nach nunmehr fünf Ausfällen (Adler, Rolfes, Ballack, Träsch, Westermann). Dass am Montag mit Angela Merkel Nummer sechs hinzukam, die ihren Besuch wegen des Rücktritts von Bundespräsident Horst Köhler kurzfristig absagen musste, passt ins Bild eines scheinbar nicht zu stoppenden Zersetzungsprozesses, der die Nationalelf befallen hat. Immerhin telefonierte die Bundeskanzlerin am Abend mit dem Bundestrainer und dem frisch dekorierten Übergangs-Kapitän Philipp Lahm.
Im Mannschaftsquartier und während der Trainingsarbeit lässt sich Löw nichts von seinen Sorgen anmerken. Während andere längst Entschuldigungen für ein mögliches Scheitern bei der WM verbreitet hätten, orientiert sich der 50-Jährige an den neuen Aufgabenstellungen, die seine Kernkompetenz betreffen: "Wir haben jetzt nicht mehr so viel Zeit, im Training muss vermehrt gearbeitet werden." Es gilt, aus den Führungsspielern (wie Lahm, Mertesacker), den Formschwachen (Klose, Gomez) und den Frischlingen (Aogo, Khedira) in Rekordzeit ein homogenes Gebilde zu formen.
Ratlos ist Löw nach den vielen Ausfällen noch lange nicht, schließlich hat er sich mit seinem Betreuerstab in vielen Sitzungen auf alle Eventualitäten vor- und Notfallpläne erarbeitet. Doch nun braucht der Bundestrainer offensichtlich Zeit zum Nachdenken. Anstatt wie geplant heute um zwölf Uhr seine 23 Auserwählten für das WM-Turnier zu präsentieren, disponierte er um und ließ mitteilen, dass er das Ende der offiziellen Fifa-Frist um 24 Uhr abwarten will. Erst am Mittwoch, einen Tag vor dem letzten Testspiel gegen Bosnien-Herzegowina (20.30 Uhr, ARD live) in Frankfurt, will der Fußballlehrer verkünden, wer nicht die Versetzung nach Südafrika geschafft hat.
Ein Blick auf Löws Schultafel zeigt seine Nöte. Seine Absicht, alle Positionen doppelt zu besetzen, ist mit den aktuell nominierten Spielern nicht mehr umzusetzen. Noch deutlicher wird jedoch, dass in der Zusammensetzung des Kaders eine Unwucht zwischen Defensive und Offensive entstanden ist.
Ein Beispiel: Während Löw mit Trochowski, Müller, Marin und Kroos gleich vier Spieler zur Verfügung stehen, die im rechten Mittelfeld zum Einsatz kommen können und als Sturmspitze neben Miroslav Klose auch noch Mario Gomez und Stefan Kießling infrage kämen, wird es hinten nach dem Ausfall des vielseitigen Heiko Westermann dünn. Eklatant ist die Lage im zentralen Mittelfeld, wo der eigentlich als Außenspieler "eingekaufte" Toni Kroos sogar schon als Zweitvariante für Bastian Schweinsteiger einspringt.
Für Sami Khedira gibt es dagegen von vornherein keinen adäquaten Ersatz. Ein Vabanque-Spiel, schließlich weiß niemand, ob der in der Rückrunde vier Wochen verletzte Stuttgarters die Härten eines langen WM-Turniers problemlos übersteht. Einzig Philipp Lahm und auch Dennis Aogo könnten ins Mittelfeld vorrücken.
Würde Löw tatsächlich Andreas Beck - wie von vielen Experten vorhergesagt - die Aufnahme in den 23er-Kader verweigern, wären die Alternativen in der Abwehr noch beschränkter. Zwar sind viele seiner Akteure auf verschiedenen Posten einsetzbar, doch ein Verrücken eines Stammspielers würde häufig weitere Wechsel provozieren - ein eindeutiger Nachteil beim Vorhaben, eine eingespielte Einheit zu bilden.
Noch hat Löw keine Entscheidung getroffen, auf welcher Seite er Philipp Lahm einsetzen möchte, wie der Kapitän gestern verriet. Seine Vorliebe für die rechte Position ist bekannt, doch Lahm machte klar, sich den personellen Überlegungen des Trainers zu beugen: "Ich werde mich immer in den Dienst der Mannschaft stellen." Eine Versetzung nach rechts würde dann Sinn machen, wenn Löw HSV-Profi Marcell Jansen doch als linken Verteidiger einplant und beispielsweise Thomas Müller oder Piotr Trochowski als Backup für Podolski ins linke Mittelfeld verschiebt. Für Jerome Boateng bliebe dann nur Rolle des Reservisten.
Noch mehr Versetzungsprobleme für den Fußballlehrer Löw ...