Essen. DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig bekräftigt seine Kritik am WM-Gastgeber 2034 und wünscht sich mehr Einsatz der Politik für den Sport.
Andreas Rettig ist bestens vorbereitet, der Geschäftsführer Sport des Deutschen Fußballbunds hat einen ganzen Stoß an Din-A4-Papieren mitgebracht in die Redaktionsräume in Essen, teils bedruckt, teils per Hand beschrieben. Immer wieder wird der 61-Jährige während des Interviews darin blättern, er will nichts und niemanden vergessen angesichts der Vielzahl an Themen rund um den DFB. Ein Gespräch über den umstrittenen WM-Gastgeber Saudi-Arabien, den Umbruch beim DFB, die Europameisterschaft im Sommer, den immer volleren Terminkalender – und Sorgen vor der anstehenden Bundestagswahl.
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel: Was hätte Andreas Rettig im Jahr 2022 zur Vergabe der Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien gesagt?
Nichts anderes als jetzt. Ich habe 2022 grundsätzliche Kritik am WM-Gastgeber Katar geäußert und ich sehe auch Saudi-Arabien als WM-Gastgeber weiter kritisch. Da hat sich meine Sichtweise nicht geändert.
Ihre Position allerdings schon. Sie sind jetzt Sportgeschäftsführer des DFB, der für die WM in Saudi-Arabien gestimmt hat.
Das muss sich ja nicht auf eine Haltung auswirken. Ich habe schon in der Vergangenheit gesagt, dass ich Jamal Khashoggi nicht vergessen habe, und ich werde ihn immer mit Saudi-Arabien in Verbindung bringen.
Den Regimekritiker, der 2018 im saudischen Generalkonsulat in Istanbul ermordet wurde.
Genau. Grundsätzlich ist es ja erst einmal zu begrüßen, dass sich die WM-Gastgeber ausgewogener über die sechs Konföderationen verteilen. Es gab 22 Weltmeisterschaften bislang, davon waren 19 in Europa und Amerika. Dass jetzt aber zwei Turniere in kürzester Zeit an Staaten vergeben werden, die Menschenrechte nicht hinreichend respektieren, ist für mich unverständlich. Und dann ist da der Vergabeprozess. Ich mache der Fifa selten Komplimente, aber da hat sie geschickt die Weichen gestellt, dass das Ergebnis so gekommen ist.
Und DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat zugestimmt.
Ich schätze unseren Präsidenten sehr und weiß, dass er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht hat. Ich habe an anderer Stelle ja bereits gesagt, dass ich nicht zum diplomatischen Dienst tauge. Genau diese Diplomatie unter Abwägung aller realpolitischen Zwänge ist aber die Aufgabe des Präsidenten. Ich spreche daher auch nur über meine persönliche Bewertung.
Kann man als DFB noch glaubwürdig Kritik üben, wenn man jedem Schritt hin zur Vergabe an Saudi-Arabien zugestimmt hat?
Es ist ja eine Qualität in unserem Verband, dass wir eine Kultur haben, die das ermöglicht, die unterschiedliche Positionen zulässt.
Sie sind in erster Linie für den Sport zuständig. Wie geht man da mit dem Thema um?
Man kann Sport und Politik nicht voneinander trennen. Dennoch war in Katar das Problem, dass man das Thema nicht vor dem Turnier abgeräumt hat und zugelassen hat, dass es in die Kabine kommt. Wir haben so viele kluge, reflektierte Spieler, die aber auch da unterschiedlicher Meinung sind. Und das darf man auch zulassen, denn auch eine Fußballmannschaft ist heterogen. Wir müssen als Verband so agieren, dass die Spieler sich ab einem bestimmten Zeitpunkt vor einem Turnier voll auf den Sport konzentrieren können. Das hat nichts damit zu tun, dass sie haltungsschwach sind.
Wir Journalisten werden trotzdem danach fragen.
Sollen Sie ja auch. Aber es muss jedem Spieler freigestellt werden, ob er sich äußert oder nicht. Man darf dann nicht einzelne in ein schlechtes Licht rücken, wenn sie nichts sagen oder vielleicht eine etwas andere Meinung haben. Da werde ich dann sauer. Da muss man respektieren, dass unsere Spieler sich in erster Linie um ihre Kernkompetenz zu kümmern haben. Es gibt aber auch keinen Maulkorb. Jeder Spieler kann jeden Tag seine Meinung sagen, genau wie jeder Mitarbeiter des DFB. Das muss ein Verband mit über sieben Millionen Mitgliedern aushalten.
Passend dazu: Sie galten lange als Chefkritiker des DFB, seit gut 15 Monaten sind Sie dessen Geschäftsführer Sport. Wie haben Sie sich eingefunden?
Es macht mir Spaß. Am Campus herrscht dank der Mitarbeiter richtig Leben und ein gutes Miteinander. Im November 2023 haben wir der U17-Nationalmannschaft mit Christian Wück nach ihrem WM-Sieg einen sehr emotionalen Empfang am Campus bereitet. Es war großartig zu sehen, wie auf allen Stockwerken die Kolleginnen und Kollegen standen und applaudierten. Wo sonst gibt es einen Arbeitgeber, bei dem so eine emotionale Kraft entwickelt werden kann? Da kommen 17-Jährige und andere stehen deshalb morgens früh auf, um ihnen zu applaudieren. Das war wirklich großartig.
Wenn wir auf ihre bisherige Amtszeit zurückblicken, ist die Heim-Europameisterschaft sicher ein absolutes Highlight. Wie fällt im Rückblick Ihre Bilanz aus?
Im Sport gibt es eine harte Währung, nämlich Erfolg. Da ist ein Viertelfinal-Aus auf den ersten Blick erst einmal unbefriedigend. Damit kann Deutschland als Gastgeber nicht zufrieden sein. Blickt man aber auf die Art und Weise, ist der Schmerz über das Ausscheiden nicht so groß. Deswegen fällt das Fazit positiv aus. Mannschaft und Trainerteam ist es gelungen, wieder eine ganz andere Identifikation zu schaffen und Nähe zuzulassen. Mir hat richtig gut gefallen, wie unsere Spieler sich präsentiert haben. Die wissen schon alle noch, dass sie aus Bösingen, Neukölln und Gelsenkirchen-Heßler kommen. Das hat man gemerkt. So ist eine Verbindung entstanden, die auch mal ein Viertelfinalaus verzeiht. Das Verhältnis der Menschen im Land zur Nationalmannschaft hat sich fundamental geändert und das konnte auch die Szene, über die im Anschluss noch viel diskutiert wurde, nicht verhindern.
Sie spielen auf das ungeahndete Handspiel durch Marc Cucurella im Viertelfinale gegen Spanien an. Wie haben Sie reagiert, als die Uefa einige Zeit später erklärte, dass es dafür Elfmeter hätte geben müssen?
(lächelt) Ich habe mich wirklich gefreut, dass die Uefa das am Ende auch erkannt hat, das gibt einem wirklich ein gutes Gefühl.
Es gab über die Nationalmannschaft hinaus in den vergangenen Jahren ein zunehmendes Gefühl der Entfremdung zwischen dem DFB und der Basis. Haben Sie da auch das Gefühl, dass sich etwas dreht?
Ganz klares Ja. Die Akademie an unserem DFB-Campus zum Beispiel wurde oft kritisch beäugt, da setzen wir nun andere Schwerpunkte. Etwas flapsig formuliert: Wir werden kein Geld in die Hand nehmen, um den Sauerstoffgehalt einer Schlafmaske von 95 auf 98 Prozent zu erhöhen. Wir müssen Dinge für den Spitzensport vordenken, die möglicherweise auch für die Breite eine Relevanz haben. Ein konkretes Thema ist der Fußball in der Schule. Da haben wir ein vielbeachtetes Projekt in Köln gestartet, das hoffentlich auch bald den Weg weiter nach Norden findet. Wir unterstützen mit Fußballtrainern die Schulen beim Sportunterricht. Das läuft mit großem Erfolg und ist ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag. Außerdem kämpfen wir massiv dafür, dass der Sport einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft bekommt.
Aktuell müssen Vereine vielfach um knappe Hallenzeiten kämpfen und dann hoffen, dass warmes Wasser aus dem Hahn kommt und es nicht durchs Hallendach regnet.
Das sehe ich mit großer Sorge. Wir haben einen milliardenschweren Investitionsstau bei der Sportinfrastruktur. Da würde ich mir ein Bündnis des Sports wünschen, das massiv für Besserung eintritt. Mir leuchtet überhaupt nicht ein, warum der Sport so stiefmütterlich behandelt wird. Der Sport zahlt auf so viele Themen ein: Integration, Gesundheit und auch Persönlichkeitsentwicklung. Aber wir geben uns mit zwei Schulsportstunden in der Woche zufrieden. Da muss mehr kommen von der Politik, da muss investiert werden.
Der zweite Teil des Interviews mit Andreas Rettig erscheint am Samstagvormittag. Darin spricht der DFB-Geschäftsführer über die zunehmende Belastung für Nationalspieler und die Entwicklungen im Verband.