Baku. Formel-1-Weltmeister Max Verstappen fährt seit einigen Rennen in der Formel 1 nur noch hinterher. Der Glanz des Rot-Blauen Rennwagens verblasst
Immer strahlend, immer Action, immer bunt, vorzugsweise in den Farben der Dose: So waren Red Bull Racing und Max Verstappen in den letzten Jahren in der Formel 1 auf Titeljagd. Vor dem Großen Preis von Aserbaidschan präsentiert sich die Realität beim Weltmeisterteam ganz anders: mit einem Instagram-Bild eines nachdenklichen Champions, wie sich dieser an den Kopf fasst, dazu noch in Schwarz-Weiß. Untertitel: das Bild spreche für sich. Ein Fan kommentiert entgeistert: „Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen, weil ich dachte, dass Max gestorben sei...“ Tatsächlich ist es nur das perfekte Symbol für einen sportlichen Überlebenskampf. Nicht nur die Titelverteidigung ist acht Rennen vor Saisonschluss in Gefahr, es droht gar das Ende einer Ära. Fünf Gründe für den Abstieg von Red Bull Racing – und eine große Hoffnung.
DAS AUTO:
Zuletzt war es ein Klassenunterschied, der zwischen dem McLaren und dem RB 20 lag. Das Auto, das noch zum Saisonstart wie gewohnt nach Belieben dominierte, scheint resistent gegen alle Verbesserungsversuche zu sein. Teamchef Christian Horner gab nach Verstappens sechstem Platz in Monza zu: „Wir haben nur das viertschnellste Auto. Wenn wir so weitermachen, verlieren wir beide Titel.“ Sein desillusionierter Fahrer sagt es prägnanter: „Wir haben ein Monster erschaffen.“ Die Techniker verirren sich immer mehr bei der Fehlersuche, seit Juni hat Verstappen nicht mehr gewonnen. Der Rennwagen scheint völlig aus der Balance geraten, es stimmt – im Wortsinn – vorn und hinten nicht. Was in einer Kurve funktioniert, tut es in der nächsten schon nicht mehr. Das Konzept scheint ausgereizt, ist unberechenbar geworden. Dementsprechend ist der Verunsicherungs-Faktor hoch: Mensch und Maschine scheinen gleichermaßen aus der Balance geraten.
DIE INTRIGEN:
Mit den internen Machtkämpfen nach dem Tod von Dietrich Mateschitz begannen die Turbulenzen. Die österreichischen Konzernmanager wollten das Eigenleben des in England stationierten Rennteams unter Kontrolle bekommen, ihnen war Teamchef Christian Horner zu mächtig geworden. Der am längsten amtierende Rennstallboss der Formel 1 wehrte sich mithilfe der thailändischen Mehrheitsbesitzer. Auch ein Skandal um ein angebliches Verhältnis mit seiner Assistentin schadete ihm bisher nicht. Wohl aber brachte es eine anhaltende Unruhe in das Erfolgsensemble, als sich Max Verstappens Vater einmischte und offen mit Mercedes flirtete. Helmut Marko, Entdecker und Vertrauensmann des dreifachen Weltmeisters, verlängerte nach langem Hin und Her seinen Beratervertrag. Aber unter der Oberfläche brodelt es weiter.
DAS PERSONAL:
Exakt seit jenem Mai-Wochenende, als Superhirn Adrian Newey überraschend seinen Abschied verkündete, dreht sich die Spirale nach unten. Verstappens Durchschnittsplatzierung bis dahin war 1,2, seither liegt sie nur bei 3,3. Tendenz: fallend. Der geniale Designer Newey, der inzwischen beim Konkurrenten Aston Martin angeheuert hat, war nicht nur wichtig für die Aerodynamik. Er hielt auch Strategen und Ingenieure stets auf Trab und war als schneller Problemlöser bekannt. Generell ist der personelle Aderlass bei Red Bull enorm, seit 2021 sind fünf Schlüsselfiguren verloren gegangen, zuletzt Sportdirektor Jonathan Wheatley, der zu Audi wechselte.
DER HELFER:
Sergio Perez ist der bislang einzige Fahrer, der zweimal auf dem Straßenkurs in Aserbaidschan gewinnen konnte. Aber von der Vergangenheit kann der Mexikaner nicht leben. Er sollte Verstappens große Hilfe sein, die Gegner in Schach halten. Doch im zweiten Jahr in Folge ist der Adjutant in einer Dauerkrise, in dieser Saison nur WM-Siebter, hat 160 WM-Punkte weniger als der Niederländer. Trotzdem wurde sein Vertrag überraschend verlängert, wohl um ihn zu beruhigen. Aber wenn Perez nicht endlich liefert, könnte nach seinem Heimspiel Mitte Oktober doch Schluss sein für ihn.
DIE GEGNER:
Verstappen hat noch 62 Zähler Vorsprung auf Lando Norris, der Brite müsste schon acht Punkte pro Rennen mehr machen, um die Wende im Titelkampf tatsächlich zu schaffen. In den letzten fünf Rennen aber kam McLaren fast auf doppelt so viele Punkte wie Red Bull, könnte schon in Baku die Führung in der Konstrukteurs-WM übernehmen. Auch Ferrari und Mercedes sind erstarkt, haben schneller und gezielter weiterentwickelt. Dass sie sich gegenseitig wichtige Zähler wegnehmen, ist inzwischen auch nicht mehr so – sie stehlen sie vor allem Verstappen, wenn dieser es aus eigener Kraft nicht mehr aufs Podium schafft. Red Bull kannte solche Krisen nicht, während die Konkurrenten ihre Talsohle schon zu Beginn des Ground-Effect-Reglements hatten und nun krisenfester erscheinen.
DIE HOFFNUNG:
Als er in der Qualifikation in Monza nur Siebter wurde, hat Max Verstappen das ursächliche Problem mit seinem Auto wohl erkannt. Jetzt treibt er die Techniker mit diesem Wissen und seiner schlechten Laune an, auch mit Funksprüchen während des Rennens: „Im Moment habe ich es nicht in der Hand. Das Auto gibt mir keine Chance. Ich kann nur Schadensbegrenzung betreiben, aber das bringt uns nicht weiter. Ich will wieder Rennen gewinnen.“ Es braucht einen Reset und dann mehr Entwicklungstempo. Die Erforschung der Symptome in der Rennfabrik hat schon ein Ergebnis gebracht – der veraltete Windkanal liefert Werte, die sich auf der Piste so nicht bestätigen. „Offenbar können wir unseren Werkzeugen nicht vertrauen“, stöhnt Teamchef Horner, „es ist so, als würde man die Zeit auf unterschiedlich tickenden Uhren ablesen.“ Auch das ein schönes Sinnbild: Bei Red Bull Racing müssen alle erst wieder vertrauen lernen.