Paris. Zehnkämpfer Leo Neugebauer tritt an diesem Freitag erstmals auf Olympischer Bühne auf. Zwei Legenden ordnen seine Chancen ein.
Ein kalter Tag im März. Jürgen Hingsen sitzt auf einer Tribüne im Wattenscheider Lohrheidestadion und denkt über die Leichtathletik nach. Darüber, welch große Tradition dieser Ort tief im Westen hat. Doch der Glanz von damals ist Geschichte. Es ist wie ein Symbolbild für den Zustand der deutschen Leichtathletik. „Wir brauchen wieder ein Aushängeschild, ein Idol. Ich würde mich freuen, wenn es mal wieder ein Zehnkämpfer wäre.“
Wenn heute im heißen Paris bei den Olympischen Spielen die Wettbewerbe im Stade de France beginnen, sind die deutschen Leichtathleten fast in allen Wettbewerben nur Außenseiter. Jedoch: Noch bevor Alles-Gewinnerin Malaika Mihambo nach einer Corona-Infektion wieder in Topform in den Weitsprung kommen kann, ist da ist einer, der schon am ersten Wochenende alles überstrahlen kann. Und in den auch Zehnkampf-Legende Jürgen Hingsen (66) große Hoffnungen setzt: Leo Neugebauer.
Zehnkampf-Faszination: Mit Psychotricks und Frotzeleien
Mit 8961 Punkten führt der 24 Jahre alte Stuttgarter die Weltjahresbestenliste an. Eine Olympiamedaille wäre für ihn „ein Traum“. Kurz vor dem Abflug in die französische Hauptstadt sagte er: „Beim Zehnkampf kann immer alles passieren, unerreichbar ist nichts – aber es wird sehr hart werden.“ An diesem Freitag steigt Neugebauer in den Wettkampf ein, nach dem abschließend 1500-Meter-Lauf am Samstag wird dann der König der Athleten gekrönt.
Der Zehnkampf hat eine besondere Faszination – gerade in Deutschland. Maßgeblichen Anteil daran hat Jürgen Hingsen. Was waren das für epische Schlachten, die er sich mit seinem Dauerrivalen Daley Thompson lieferte. Nebenbei erfanden sie eine elfte Disziplin: die Show. Mit Psychotricks neckten sie sich im Wettkampf, am Rande frotzelte Thompson als „Hollywood Hingsen“. Obwohl der Duisburger jeweils zuvor einen Weltrekord aufgestellt hatte, konnte er den Briten weder bei einer WM, noch bei Olympia schlagen. 1983 wurde er in Helsinki Vizeweltmeister, in Los Angeles 1984 gewann er Silber bei den Spielen. Doch er ist sicher: „Daley war ein herausragender Athlet, aber durch unseren Zweikampf hat das eine andere Dimension bekommen.“
Zweimal den deutschen Rekord verbessert
Einer solchen nähert sich Leo Neugebauer. Die magische 90oo-Punkte-Marke – nur fünf Athleten haben sie bisher geknackt – war für ihn zum Greifen nah, als er im Juni seinen eigenen deutschen Rekord noch einmal verbessert hatte. Diese Meisterleistung gelang ihm im fernen Austin in Texas. Neugebauer lebt und trainiert in den USA, profitiert dort vom finanziell prächtig aufgestelltem College-System mit paradiesischen Bedingungen. Doch von den Athleten wird auch Leistung abverlangt, viele Wettbewerbe müssen sie bestreiten. Leo Neugebauer liefert diese nicht nur ab, ihm gelingt dies mit einer aufreizenden Leichtigkeit. Bei den College-Meisterschaften knackte er 2023 erstmals den 39 Jahre alten deutschen Rekord von Jürgen Hingsen. Ein Jahr später verbesserte er diesen nun beim gleichen Event, zuvor brach er noch den von Frank Busemann (49) gehaltenen deutschen Siebenkampf-Rekord in der Halle.
Überhaupt ist der Athlet, der für den VfB Stuttgart startet, ein Hingucker. 1,98 Meter groß, 108 Kilo schwer, jeder Muskel ausdefiniert. „Er ist ein Modellathlet“, sagt Hingsen. Das Wort Strahlkraft wurde für ihn erfunden: Strahlen und Kraft – Leo Neugebauer verfügt über beides.
Neuer Busemann? Neuer Hingsen? Besser!
Bei den Olympischen Spielen gilt er nun als Goldfavorit. „Die Medaille kann ein Gamechanger für ihn sein“, sagt Busemann, Zehnkampf-Silbermedaillen-Gewinner von 1996 in Atlanta. In der deutschen Öffentlichkeit sei Neugebauer noch nicht so präsent – seine Erfolge gelangen ihm tief in der Nacht. Doch bei der WM 2023 in Budapest trat er erstmals groß in Erscheinung: Nach dem ersten Tag und vielen Küsschen und Selfies fürs Publikum lag er auf Goldkurs, leistete sich dann aber Patzer, dass er am Ende Platz fünf belegte. „Er hat eine erste Krisensituation gemeistert“, sagt Hingsen. Auch das gehört zum Zehnkampf. Neugebauer habe aus dieser Erfahrung gelernt.
„Ich hoffe, dass er eine Medaille gewinnt“, sagt Busemann (49). „Er kann die Leute mitreißen. Er ist ein Typ wie in Stein gemeißelt, ein fairer Sportsmann, ein Sympathieträger. Der bringt alles mit, was man liebt.“ Klingt nach einem neuen Frank Busemann – der kämpfte sich damals mit seinem beherzten Auftritt, seinen Emotionen und seiner Ruhrpottschnauze ähnlich in die Herzen der Sportfans, wie es Jürgen Hingsen mit seinem ewigen Duell gelungen war. Busemann lacht nur und prophezeit: „Der wird besser, der ist schon besser.“
Und Jürgen Hingsen erkennt eine Parallele zu sich selbst: „Wie ich damals den Schnauzer trug, trägt er auch ein Bärtchen. Der Hollywood-Part passt ja auch, den kann er ja jetzt übernehmen.“
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