Paris. Mark Warnecke gewann Olympia-Bronze im Schwimmen, Leonie Beck will sich den Medaillentraum in Paris erfüllen. Ein Gespräch über Idole und Image.
Das Videobild hakt etwas, der Ton knarzt, doch es klappt: Freiwasserschwimmerin Leonie Beck, 27, meldet sich aus der Vorbereitung in Italien, Ex-Becken-Ass Mark Warnecke (54) ist aus einem Hotelzimmer zugeschaltet. Auch wenn die Verbindung wackelt, sind die Aussagen der beiden klar: Olympia ist für sie das Größte. Mark Warnecke hat bereits geschafft, worauf Leonie Beck seit Jahren hinarbeitet: Der Bochumer gewann 1996 in Atlanta eine Olympiamedaille – Bronze über 100 Meter Brust. Beck will sich diesen Traum in Paris über die 10 Kilometer erfüllen. Am 8. August drückt Mark Warnecke ihr die Daumen – er traut ihr Großes zu.
Herr Warnecke, wie war das damals als Olympiamedaillen-Gewinner im Schwimmen: Wurden Sie auf der Straße erkannt?
Mark Warnecke: Das kommt auf die Fußgängerzone an. (lacht) Hier und da sicherlich. Als Schwimmer eine Medaille zu gewinnen, ist ja schon relativ selten und da fällt das schon auf. Das ist jetzt nicht unendlich nachhaltig, aber in der Zeit danach war es schon spürbar. Da merkt man auch den Wert einer Olympiamedaille: Der ist prinzipiell höher als der einer WM-Medaille.
Ist das so?
Warnecke: Ja, eigentlich ist es unlogisch, aber offenbar wird das so aufgefasst. Das Schöne ist: Wenn du eine Olympiamedaille hast, dann wirst du auch in 20 Jahren noch als Olympiasieger vorgestellt – auch wenn du eigentlich Silber oder Bronze gewonnen hast. (lacht) Das ist ganz witzig, wie das verwischt, welche Dimension Olympia auch für die Menschen hat.
Falls Sie noch einen Anreiz für Medaille gebraucht haben, Frau Beck, dies wäre doch einer…
Leonie Beck: Ja, eine olympische Medaille habe ich noch nicht. Das wäre sehr, sehr cool, wenn es in Paris klappt.
Für einen Olympiasieg braucht es einen besonderen Charakter
Hat Olympia für Sie auch einen höheren Stellenwert?
Beck: Ja, das hat es. Ich denke, weil es nur alle vier Jahre stattfindet und dadurch die wichtigste Medaille ist, die ein Sportler erreichen kann. Ich habe gerade im Schwimmen schon einige Olympiamedaillengewinner kennengelernt und finde: Sie haben alle etwas Besonderes in ihrem Charakter. Aber man muss auch besonders sein, um diese Medaille zu gewinnen.
Herr Warnecke, trifft das auf Sie auch zu?
Warnecke: (lacht) Sie meinen als Betroffener, sozusagen? Es ist ja schon so, dass Sportler für ihre Leistungen irgendwas besser machen als andere Menschen. Das führt aber auch dazu, dass manche in anderen Dingen Defizite haben. Schauen wir uns das Finale im 100-Meter-Laufen an: Da stehen acht Charaktere, denen man allen zu einer Therapie raten kann – das sind nicht alles Narzissten, aber sie haben schon spezielle Persönlichkeitsstrukturen. Die helfen aber in so einem Moment. Olympische Spiele sind in ihrer ganzen Aufmachung etwas ganz anderes: Sie sind riesig, man selbst ist ein winziger Teil davon. Für mich war es physisch und seelisch deutlich schwieriger und anstrengender, mich dort durchzubeißen. Bei EM oder WM, da gibt man sein Bestes und es ist okay. Aber Olympia? Das ist ein echtes Brett. Das überlebst, das meisterst du nur mit besonderen Persönlichkeitsstrukturen.
Spüren Sie vor Olympia einen anderen Druck, Frau Beck?
Beck: Natürlich möchte man gut abschneiden: Mein ganzes Leben arbeite ich auf dieses Rennen hin. Ich werde mein Bestes geben und hoffe, dass das Beste dabei herauskommt.
Sie gehören im Freiwasser zu den Favoritinnen.
Beck: Ja, nachdem ich letztes Jahr zwei WM-Titel gewinnen konnte, mich direkt für Paris qualifiziert hatte und mein Herz einfach erstmal zehn Kilo leichter war, hieß es sofort: Jetzt kann sie ja auch Olympia-Gold gewinnen. Ich dachte mir da nur: Es ist noch ein Jahr hin, das sind komplett andere Bedingungen, andere Rennen – gerade im Freiwasser ist das nochmal speziell.
Kaltes Wasser kann Leonie Beck den Traum verhageln
Können Sie das erklären?
Beck: Die WM in Fukuoka war für mich perfekt: Flaches Wasser, warmes Wasser – so gut wie keine Schwierigkeiten für mich. Es kann so viel passieren. Jetzt schwimmen wir ja höchstwahrscheinlich in der hoffentlich sauberen Seine – brutale Strömung, das Wasser kann sehr kalt sein, was mir überhaupt nicht entgegenkommt. Ich bereite mich so gut es geht darauf vor und hoffe, dass es an dem Tag vielleicht so 20 Grad Wassertemperatur sind. Man kann nicht darauf schließen, dass nur weil ich einmal WM-Gold gewonnen habe, das beim nächsten Wettkampf wieder funktioniert. Siehe Doha: bei der WM Anfang Februar bin ich dort 20. geworden, weil das Wasser kalt war.
Herr Warnecke, warum trauen Sie Frau Beck zu, es trotzdem in Paris schaffen zu können?
Warnecke: Die Chance ist groß. Wie sie schon sagt: Es ist schwierig von Favoritin zu reden. Aber ich würde es an ihrer Stelle einfach als super, super Chance definieren. Ich würde nicht hingehen und sagen: „Boa, ich bin Weltmeister, das Ding rock ich.“ Das würde kein Sportler wagen. Aber die Chance ist bei einem, der schonmal einen großen Titel gewonnen hat, größer als bei einem, der noch nie was gewonnen hat. Leonie muss die Last, die eine Erwartung von außen sein kann, als Gelegenheit begreifen. Sie kann mit einem breiten Kreuz ins Rennen gehen. Das wird nicht lustig, aber das weiß man vorher – vor allem ab einem gewissen Level. Und das hat Leonie locker drauf. Sie wird alles in die Waagschale werfen, alles reinhauen – und dann kommt vielleicht einfach alles zusammen.
Ist es im Becken leichter, Favoriten zu benennen?
Warnecke: Grundsätzlich hast du im Becken natürlich weniger Überraschungen. Du trainierst jeden Tag, kennst deine Zeiten, kannst dich optimieren. Aktuell haben wir bei den Frauen im Becken etwas Probleme – das war früher nicht so. Bei den Männern haben wir aber so ein, zwei Sternchen, die auch nach oben greifen können: 200-, 400- und 800- und 1500-Freistil sind wir gut aufgestellt, das kann richtig schnell werden, da kann in Paris was funktionieren. Auch der Nachwuchs gefällt mir da besser. Der Corona-Jahrgang hat ein paar Probleme, aber danach kommt was. Es dauert halt ein wenig. Aber so ist das: Wenn es einmal richtig schlecht läuft, kannst du nicht zaubern, dann hast du erstmal nur ein paar vielversprechende Schwimmer.
Beck: Ja, das Becken ist berechenbarer – aber nur wenn man mental sehr stark ist. Das ist der Knackpunkt. Im Freiwasser spielt es auch eine große Rolle, aber da gibt es auch andere Einflussfaktoren, die man akzeptieren muss. Im Becken liegt es am Ende einzig an der eigenen mentalen Stärke, deine Leistung auch abzurufen. Ich finde aber schon, dass wir ein starkes Becken-Team haben. Ja, es sind nicht so viele Mädels, aber Isabel Gose und Anna Elendt haben ja auch schon WM-Medaillen gewonnen. Da kann man schon auf die eine oder andere Überraschung hoffen.
Warnecke: Grundsätzlich finde ich: Wenn wir nochmal einen Michael Groß oder eine Franziska van Almsick hätten, dann hätten die deutschen Schwimmer auch wieder eine ganz andere Aufmerksamkeit – aber Leonie kann das ja machen. Die Möglichkeiten sind da, auch wenn es ein schwieriger Weg ist.
Leonie Beck nimmt die Rolle als Vobild gerne an
Würden Sie die Rolle als Frontfrau im deutschen Schwimmen annehmen, Frau Beck? Auf den Spuren von van Almsick und Britta Steffen also?
Beck: Ich möchte mich nicht mit Britta Steffen vergleichen. Ja, ich bin dreimalige Weltmeisterin – aber ich habe noch keine Olympiamedaille, geschweige denn bin ich Olympiasiegerin. Sie war eine ganz andere Kategorie. Ich weiß daher nicht, ob ich eine Frontfrau bin, aber ich würde mich freuen, wenn ich den einen oder anderen mitreißen könnte. Ich versuche ja auch, auf Social Media ein bisschen von meinem Sport zu zeigen, damit man Schwimmer in den Nachwuchs bringen kann. Ich würde mich freuen, als Vorbild wahrgenommen zu werden.
Sie nehmen diese Rolle gerne an?
Beck: Ja, auf jeden Fall. Weil ich finde, dass in den letzten Jahren so jemand wie Michael Groß gefehlt hat. Er war schon der Anführer der Gruppe. So einer fehlt im Schwimmen, aber auch generell im Sport: Man hat überhaupt keine Idole mehr. Selbst Florian Wellbrock als Olympiasieger erkennen viele auf der Straße nicht. Das finde ich schade. Er ist Olympiasieger geworden – wie viele haben wir denn da? Schön wäre es, wenn man wieder Idole – auch aus dem Schwimmsport hätte.
Warnecke: Dafür brauchst du auch immer viel Charisma. Das bringst du auf jeden Fall mehr mit als andere, Leonie. Denn das ist der Weg, über den die Medien auch Stars machen: Es geht nicht nur um Leistung, nicht nur um Optik, das Gesamtpaket ist es, das du als Mensch mitbringen musst. Das Besondere muss spürbar sein – und wenn die Medien das erkennen und du mitmachst, können sie das transportieren. Und dann kann was draus werden. Dann hast du auch die Chance, auf so einer Welle zu surfen. Es sind viele Komponenten, die man mitbringen muss – ob das jetzt gerecht ist oder nicht: Das ist einfach so. Deswegen saß im Sportstudio 1996 nach Olympia in Atlanta auch ein Nicht-Olympiasieger auf dem Sofa, wo sonst nur Goldmedaillengewinner geladen waren.
Sportidole müssen mehr als Gewinner sein, es braucht Typen
Sie meinen Frank Busemann, der im Zehnkampf sein Herz auf der Leichtathletik-Anlage ließ, Silber gewann und zum Publikumsliebling avancierte.
Warnecke: Genau. Bei ihm war es eine besondere Geschichte, und er war ein Typ. Wenn du also Erfolg hast: Dann geh es auch mit, das gibt dir viele Möglichkeiten. Man kann da ruhig in die Verantwortung gehen und andere Leute begeistern. Was wir in Deutschland vor allen Dingen haben, ist ein Werteverlust was sportliche Leistung angeht – katastrophal. Wenn du diese Sportwerte wie Fleiß, Respekt, Fairplay liebst: Dann sei das Gesicht für sie, damit kann man den Werteverlust bekämpfen, aufhalten.
Beck: Ich würde es als Ehre sehen und gerne den Sport allgemein wieder etwas größer machen. Wir brauchen wieder Sport-Idole in Deutschland.
Warnecke: Selbst wenn du dich selbst privat nicht als Idol sehen würdest: vollkommen egal, strahl es dem Sport zuliebe nach außen aus. So weckt man Begeisterung. Ich erinnere mich noch, wie damals unzählige Tennishallen aus dem Boden schossen, weil Steffi Graf und Boris Becker so erfolgreich wurden. Man kann dann was bewegen, wenn man die nötigen Komponenten mitbringt. Das kann dann ein Olympiasieg sein – aber manchmal ist das eben zu wenig, weil das Gesamtpaket nicht stimmt. Und das braucht der Mensch draußen.
Wenn Sie früher und heute vergleichen, Herr Warnecke: Woran lässt sich ein Werteverlust festmachen?
Warnecke: Schwere Frage. Natürlich hängt es an fehlenden Idolen, an fehlendem Erfolg. Bist du nicht mehr zu sehen, bist du uninteressant, das wirkt sich dann auch negativ auf die Sportart aus. Das geht miteinander einher. Die Werte insgesamt verändern sich, Sport wird als Qual gesehen. Dabei gibt er einem so viel. Ich kann zum Beispiel überall auf der Welt jemanden anrufen und bin willkommen – auch bei meinen Gegnern. Sportler haben ein sehr offenes Mindset, wenig Vorurteile, Respekt. Du lernst durch den Sport so viel und nimmst so viel mit. Aber die Leute sind nicht mehr bereit, zu investieren. Die Wertschätzung für die, die sich reinhängen, wird auch weniger. Aber das war früher schon in anderen Ländern ausgeprägter.
Warnecke kritsiert Werteverlust im Sport
Inwiefern war das spürbar?
Warnecke: Wenn wir beispielsweise im Trainingslager in den USA waren. Wenn du da so voll austrainiert mit drei Schwimmerkanten in den Laden reinkommst und das All-You-Can-Buffet leer isst, dann fragen die schon mal: „Was macht ihr denn so?“ Die Amerikaner mögen dann zwar oberflächlich sein, aber die haben immer große Anerkennung für das gehabt, was du tust. Das macht einen als Sportler ja auch stolz. In Deutschland habe ich eher das Gegenteil erlebt.
Nämlich?
Warnecke: Ich bin da mal nach einer EM nach Hause gekommen, war in einer Videothek und plötzlich spricht mich einer an: „Ja, war scheiße, ne?“ Ich war kurz vorher Vierter geworden. Und das war jetzt sein Kommentar zu meiner Leistung. Ich dachte nur: Das kann jetzt nicht sein. Insgesamt empfinde ich es schon so, dass die Anerkennung dafür, Leistung zu bringen und sich für etwas aufzuopfern ist geringer geworden ist.
Beck: Ich finde es ganz, ganz schlimm, wenn Eltern ihre Kinder nicht mehr zum Sport bringen. Meiner Meinung nach kann man im Sport Kinder auf die richtige Bahn fürs Leben bringen. Ich kenne einen Schwimmer, dessen Vater ist im Gefängnis, sein Bruder lebt auf der Straße. Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht den Rückhalt einer Schwimmgruppe gehabt hätte? Heute hat er eine Medaille bei Olympia gewonnen.
Sportler müssen Dopingvergehen der Konkurrenz ausblenden
Das sind die großen Geschichten, die der Sport schreibt. Ein dunkles Kapitel, das nun wieder einmal aufgeschlagen wurde, ist das Thema Doping: Recherchen zu Folge sollen 23 chinesische Schwimmer 2021 positiv auf ein verbotenes Herzmittel getestet worden sein – ohne Sanktionen. Einige von ihnen starten nun bei Olympia. Auch die Wada hat nicht konsequent bestraft. Wie reagieren Sie darauf?
Beck: Ich möchte mich dazu lieber nicht äußern. Das bringt mir sonst zu viel Unruhe rein in Paris und ich will mich 110 Prozent auf meinen Wettkampf fokussieren.
Warnecke: Dann mache ich das. Ich würde an Leonies Stelle auch nichts dazu sagen, das lenkt dich nur ab. Denn: Du kannst dich aufregen, aber was bringt es dir, wenn du weißt, der neben dir hat vielleicht gedopt? Dadurch wirst du ja selbst auch nicht besser. Aber ja, es ist leider Gottes nicht überraschend, dass so ein Fall wieder aufgetaucht ist. Es sind ja auch die üblichen Verdächtigen. Es ist gut, dass es aufgedeckt und diskutiert wird.
Schadet es dem Image des Schwimmens erneut?
Warnecke: Du kannst ja nichts daran ändern. Es ist ganz traurig wie beispielweise Doping im Radsport betrieben wurde, dass einige Menschen auf der Straße heute glauben, sie wären genauso schnell wie ein ungedopter Radprofi. Wenn die wüssten, was da in den Beinen steckt, auch ohne Doping. Das schadet dem Sport insgesamt, nicht nur dem Radsport, nicht nur dem Schwimmen. Solche Recherchen kommen ja auch immer vor Olympia, klar, da verkauft es sich gut. Für den Sport ist das echt scheiße. Es hinterlässt immer den Eindruck, es wäre nur das Doping. Herausragende Leistungen, die es gibt, werden dadurch nicht mehr anerkannt.
Frau Beck, nun ist es bald so weit: Ihre Olympia-Rennen rücken näher. Was fühlen Sie?
Beck: Es war ein sehr langer Zyklus. Alles ist auf dieses eine Rennen ausgelegt. Man lebt von Tag zu Tag, trainiert, hat ein paar Wettkämpfe. Im Prinzip warte ich seit Fukuoka 2023 auf diesen August. Da können dann alle einschalten und zusehen, wie ich mein Bestes gebe.
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