Hamburg. Karatekämpferin Reem Khamis vom Harburger Turnerbund vertritt Hamburg als Europameisterin bei den Europaspielen in Polen.

Im Flugzeug, das sie nach Polen brachte, hatte Reem Khamis am Dienstag wieder einen dieser Momente, in denen sie kaum glauben kann, was da gerade mit ihr passiert. Wenn an diesem Mittwoch in Krakau die 3. Europaspiele eröffnet werden, ist die 20 Jahre alte Karatekämpferin vom Harburger Turnerbund Teil der 287 Aktive umfassenden Delegation des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).

Für eine, die erst seit Juni 2021 deutsche Staatsbürgerin ist und im Sommer vergangenen Jahres ihren ersten Einsatz im Erwachsenenbereich hatte, ist das eine Entwicklung, die in dieser Form nicht vorauszusehen war.

„Wie schnell ich den Übergang von den Juniorinnen zu den Erwachsenen geschafft habe, hat nicht nur mich überrascht, sondern auch mein Umfeld. Umso glücklicher bin ich, die Chance zu bekommen, mich bei den Europaspielen zu beweisen“, sagt die in Ägyptens Hauptstadt Kairo geborene Athletin, die seit 2013 mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern in Hamburg lebt.

Nur acht Frauen pro Gewichtsklasse

Welche Bühne sich ihr in Polen bietet, wird deutlich, wenn man weiß, dass pro Gewichtsklasse nur die besten acht Frauen des Kontinents antreten. Die Qualifikation für Krakau schaffte Reem Khamis dank des größten Triumphs ihrer bisherigen Karriere.

Ende März gewann sie bei den Europameisterschaften in Guadalajara (Spanien) nicht nur den Einzeltitel in ihrem Gewichtslimit bis 61 Kilogramm, sondern mit der deutschen Mannschaft auch Teamgold. Keinen einzigen ihrer zehn Kämpfe verlor sie.

Im Halbfinale gelang ihr gegen die Türkin Gulbahar Gozutok, der sie im Herbst 2022 bei der U-21-WM in Finale unterlegen war, die Revanche. „Das war einer der beiden Momente, die mir gezeigt haben, dass ich bei der Elite angekommen bin“, sagt sie.

Platz zwei bei Turnier in Japan

Der andere trug sich vor wenigen Wochen zu. Vor dem Weltranglistenturnier in Fukuoka (Japan) verletzte sich Bundestrainer Jonathan Horne (34), der seit ihrer Aufnahme in den A-Bundeskader für sie verantwortlich ist, und konnte die Reise nicht antreten.

In Japan angekommen hatte Reem Khamis selbst gesundheitliche Probleme, schaffte es aber dennoch, sich auf Weltklasseniveau bis ins Finale vorzukämpfen. „Wenn ich unter widrigen Bedingungen so weit komme, muss ich vor nichts Angst haben“, sagt sie.

Angesichts der Erfolge im ersten Halbjahr 2023 muss die Hamburgerin nun in Polen damit klarkommen, zu den Favoritinnen auf den Titel gezählt zu werden. Druck erzeugt das für sie keinen, weil ihre eigene Erwartungshaltung immer schon war, dass gut nur dann gut genug ist, wenn sie die Beste ist.

In jeden Wettkampf als Underdog

„Mein Ziel ist es immer, eine Medaille zu gewinnen, egal in welchem Wettkampf. Aber gefühlt starte ich in jedes Turnier als Underdog, weil für mich immer noch alles neu ist und ich vieles lernen kann“, sagt sie. Andererseits habe sie in den vergangenen Monaten bereits gelernt, mit dem Anspruchsdenken von außen besser umzugehen.

„Schritt für Schritt gewöhne ich mich an die neuen Bedingungen, und ich denke, dass die Erfolge, die ich erleben durfte, für meine Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig waren“, sagt sie. Was bei einer wie ihr, die Werte wie Höflichkeit, Bescheidenheit und Ehrgeiz von ihren Eltern mitgegeben bekommen hat, bedeutet, dass sich um ihre Bodenhaftung niemand sorgen muss.

Reem Khamis weiß, woher sie kommt, und dass Dinge auch ganz schnell anders laufen können, wenn sie nicht 100 Prozent Einsatzwillen und Leidenschaft investiert. Natürlich muss mit ihrer Entwicklung auch das persönliche Pensum Schritt halten.

In Hamburg ist sie nur noch selten

Die Umfänge ihres Trainings haben sich kaum erhöht, dafür aber die Intensität, weil sie meist mit dem Bundeskader in Kaiserslautern oder auf internationalen Lehrgängen übt. „Dauerhaft auf diesem Niveau gefordert zu sein, das ist enorm wichtig für mich. Nicht nur, um mich immer wieder mit den Besten zu messen, sondern auch, um mich abseits der Kampffläche zu entwickeln“, sagt sie.

In Hamburg war sie in den vergangenen drei Monaten zusammengerechnet vielleicht eine Woche. Umso mehr freut sie sich, nach den Europaspielen, wo sie ihren Wettkampf an diesem Freitag bestreitet und am Sonnabend bereits zurückfliegt, einen Trainingsblock bei ihrem Harburger Heimtrainer Ralf Becker absolvieren zu können.

Außerdem stehen von kommender Woche an wichtige Klausuren für ihr Studium des allgemeinen Ingenieurwesens an der TU Harburg auf dem Programm, das sie trotz der Doppelbelastung durchzieht. „Die Berufsausbildung ist mir sehr wichtig, denn leider habe ich weiterhin keine Sponsoren, um meinen Sport unter Profibedingungen zu betreiben“, sagt sie. Immerhin muss sie, weil sie im Bundeskader mehr Förderung erhält, nicht mehr mehrere Nebenjobs ausführen, um finanziell klarzukommen.

Hoffnung auf Olympia 2028

Die größte Bühne, um für potenzielle Unterstützer interessant zu werden, hat Reem Khamis um zwei Jahre verpasst. Bei den Sommerspielen 2021 in Tokio war Karate im Mutterland des Kampfsports erstmals Teil des olympischen Programms, kommendes Jahr in Paris zählt es nicht mehr dazu.

„Das ist natürlich schade, aber vor zwei Jahren wäre ich absolut noch nicht bereit gewesen, deshalb ist für mich alles gut so, wie es ist“, sagt sie. Die Hoffnung auf eine Rückkehr unter die fünf Ringe 2028 in Los Angeles lebt.

In diesem Jahr ist die WM in Budapest (Ungarn/24. bis 29. Oktober) der Saisonhöhepunkt. Die Nominierungen dafür sind noch nicht erfolgt, ein gutes Abschneiden in Polen könnte den entscheidenden Kick geben. Reem Khamis, so viel ist sicher, wird alles dafür tun, um weiterhin so positiv wie möglich aufzufallen.