Harburg. Die 20-Jährige vom Harburger TB feiert in Spanien größten Erfolg ihrer jungen Karriere. Welche Herausforderungen in diesem Jahr noch warten.

Seit nunmehr 32 Jahren, sein halbes Leben lang, ist Ralf Becker als Karatetrainer beim Harburger Turnerbund (HTB) engagiert. Beim größten Erfolg seiner Trainerkarriere war er nicht in der Halle vor Ort, aber auf andere Art live dabei. „Ich habe vier Tage lang alles gesehen, entweder zu Hause oder übers Handy, wenn ich unterwegs war“, erzählt der 64-Jährige. So auch am Sonnabend, als er mit einigen Aktiven seiner Abteilung an einem Turnier teilnahm. Alle fieberten mit der erfolgreichsten HTB-Karate-Sportlerin mit, die zeitgleich bei den Europameisterschaften in Spanien zum ganz großen Wurf ausholte: Reem Khamis.

Zwei Goldmedaillen für Reem Khamis bei Europameisterschaften in Guadalajara

„Ich war so bewegt, dass ich kaum den Bildschirm erkennen konnte. Ist doch klar, dass bei einem so großen Erfolg Tränen fließen“, versuchte Becker erst gar nicht, mit seinen Emotionen hinterm Berg zu halten. In all den Jahren waren einige seiner Schützlinge deutscher Meister geworden und hatten den Sprung in den Nationalkader geschafft. Dass eine von ihnen aber Europameisterin in der offenen Frauenklasse wird – und das gleich doppelt – ist der mit Abstand größte Erfolg.

Eben dieses Kunststück gelang der 20 Jahre alten Reem Khamis bei der Karate-EM in der Disziplin Kumite in Guadalajara. In der Gewichtsklasse bis 61 Kilogramm holte sich die Studentin, die 2013 mit ihrer Familie aus Ägypten nach Deutschland gekommen war, zunächst den Titel in der Einzelkonkurrenz, um anschließend mit der deutschen Frauen-Mannschaft auch die Team-Goldmedaille zu gewinnen.

Zehn Kämpfe bestritt die Harburgerin bei der EM, keinen einzigen verlor sie

Insgesamt zehn Kämpfe bestritt die Harburgerin in Spanien, keinen einzigen verlor sie. Mehrere Jahre hatte Khamis auf ihre Einbürgerung und die damit verbundene Chance warten müssen, international für Deutschland zu starten. Dann ging es plötzlich ganz schnell. Fast ebenso schnell wie der rasante Aufstieg der sympathischen Sportlerin aus Harburg in die Weltspitze.

Die glückliche Siegerin umarmt nach dem Finale den Kumite-Bundestrainer Jonathan Horne.
Die glückliche Siegerin umarmt nach dem Finale den Kumite-Bundestrainer Jonathan Horne. © DKV | Brigitte Kraußer

„Im vergangenen Jahr hat sich Reem in der Weltrangliste um 80 Plätze verbessert, bis auf Position sechs“, berichtet Ralf Becker. Auch bei Meisterschaften trumpfte sie 2022 auf. Sowohl bei den Europa- als auch den Weltmeisterschaften der Altersklasse U21 gewann die 20-Jährige die Silbermedaille. „Bei der WM hat sie ganz knapp verloren. Darum war es ihr jetzt so wichtig, den Kampf gegen ihre damalige WM-Finalgegnerin zu gewinnen“, so Becker.

U21-WM-Finale noch gegen eine Türkin verloren, nun die erfolgreiche Neuauflage

Diese U21-Weltmeisterin heißt Gulbahar Gozutok und kommt aus der Türkei. In den ersten drei Runden der Frauen-EM 2023 gewann Reem Khamis mit 5:1 gegen Weronika Mikulska (Polen), mit 2:0 gegen Lucia Battaia (Kroatien) und mit 3:2 gegen Anna-Johanna Nilsson (Schweden). Im Halbfinale kam es zur ersehnten Neuauflage des Kampfes gegen die Türkin. Diesmal gewann Reem Khamis mit 3:0, schaffte den Einzug in das EM-Finale und qualifizierte sich gleichzeitig für die European Games – die europäischen Titelkämpfe der nichtolympischen Sportarten – in Krakau (Polen). Die Karatewettbewerbe werden am 22. und 23. Juni in Bielsko-Biala ausgetragen.

Der größte Triumph ihrer jungen Laufbahn: Einzel-Europameisterin Reem Khamis neben der Vizeeuropameisterin und Weltranglistenersten Anita Serogina (Ukraine, links).
Der größte Triumph ihrer jungen Laufbahn: Einzel-Europameisterin Reem Khamis neben der Vizeeuropameisterin und Weltranglistenersten Anita Serogina (Ukraine, links). © DKV | Brigitte Kraußer

„Ich kann es noch nicht ganz in Worte fassen. Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, im Halbfinale gegen meine Finalgegnerin von der WM in Konya zu gewinnen und mir selbst zu bestätigen, dass der Weltmeistertitel so greifbar war“, wird Khamis in einer Mitteilung des Deutsche Karate-Verbandes (DKV) zitiert.

Viel Lob von Bundestrainer Jonathan Horne, 2021 selbst Olympiateilnehmer

„Wir sind mega-glücklich und mega-stolz, dass wir sofort zwei Final-Teilnahmen erreicht haben. Johanna und Reem haben exzellent gekämpft, an sich geglaubt und die Dinge umgesetzt, die wir im Vorfeld besprochen hatten“, sagte Kumite-Bundestrainer Jonathan Horne, der 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio noch selbst aktiv gewesen war. Mit Johanna Kneer aus Ravensburg (bis 68 kg) erreichte eine zweite deutsche Starterin das Finale und gewann ebenfalls.

Reem Khamis ließ sich nicht mehr aufhalten. Daran konnte im Finale auch keine Geringere als die Weltranglistenerste Anita Serogina aus der Ukraine etwas ändern. In einem Kampf, in dem Serogina offensichtlich nicht in Rückstand geraten wollte, machte Khamis doch den ersten Punkt und ließ den zweiten eine Minute vor Kampfende folgen. Erst daraufhin legte die 33 Jahre alte Ukrainerin ihre Zurückhaltung ab und verkürzte auf 1:2.

Im EM-Finale besiegt Reem Khamis die Weltranglistenerste aus der Ukraine

Ein weiterer Punkt gelang ihr nicht – Reem Khamis schlug angesichts der gewonnenen Goldmedaille ungläubig die Hände vors Gesicht. „Ich kann das noch nicht ganz realisieren. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein Finale für mich zu entscheiden und die Goldmedaille zu holen“, sagte Reem Khamis. „Es war aber eine Teamleistung. Ohne die Unterstützung durch meinen Verein und das gesamte Team vor Ort wäre das nicht ansatzweise möglich gewesen.“

Als Sahnehäubchen gewann Deutschland, das auch die Spitze in der Nationenwertung einnahm, noch Gold durch die Kumite-Damen-Mannschaft in der Besetzung Johanna Kneer, Reem Khamis, Madeleine Schröter (Weimar) und Gizem Bugur (Berlin). Alle fünf Begegnungen gegen Irland, Italien, Spanien, Finnland und Kroatien gewann das Quartett mit 2:0.

Frauen-Team gewinnt alle fünf Runden mit 2:0, im Finale gegen Kroatien

Reem Khamis kam in den ersten vier Runden auf eine 12:1-Bilanz und bewies im Team-Finale Nervenstärke, als sie 21 Sekunden vor Schluss mit 2:3 zurücklag und mit drei Wertungen, eine davon war zwei Punkte wert, noch mit 6:3 gewann.

Die erfolgreiche deutsche Frauen-Mannschaft (von links): Gizem Bugur, Madeleine Schröter, Bundestrainer Jonathan Horne, Reem Khamis und Johanna Kneer.
Die erfolgreiche deutsche Frauen-Mannschaft (von links): Gizem Bugur, Madeleine Schröter, Bundestrainer Jonathan Horne, Reem Khamis und Johanna Kneer. © DKV | Brigitte Kraußer

„Die Chance und die Hoffnung auf eine vordere Platzierung war da. Sich aber gegen solch erfahrene Kämpferinnen zu behaupten, die teilweise zehn Jahre mehr Erfahrung haben, da muss man schon ein ganz schön dickes Brett bohren“, sagte HTB-Trainer Ralf Becker über die Auftritte von Reem Khamis. „Sie war total fokussiert und konzentriert, hat wenig Gegentreffer kassiert und sich auch von Rückständen nicht aus der Ruhe bringen lassen. Für ihre 20 Jahre hat sie sich sehr clever präsentiert und war jederzeit klar im Kopf“, lobte der HTB-Trainer seine Doppel-Europameisterin.

Im Juni European Games in Polen, im Oktober Weltmeisterschaften in Ungarn

Dass die Maschinenbau-Studentin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg angesichts von zwölf Trainingseinheiten pro Woche austrainiert, schnell und athletisch topfit sei, daran gebe es ohnehin keinen Zweifel.

Viel Zeit, den Erfolg in Ruhe zu genießen oder sogar eine Trainingspause einzulegen, hat Reem Khamis unterdessen nicht. In zwei Wochen steht ein Turnier in Rheinland-Pfalz an, Mitte Mai ein Premier-League-Event in Rabat (Marokko) und dann folgen bald die European Games in Polen. In der Weltrangliste hat sich die Harburgerin um zwei Plätze verbessert – als derzeit Viertplatzierte wäre sie durchaus in Medaillennähe für das zweite große Event 2023, die Weltmeisterschaften Ende Oktober in Ungarns Hauptstadt Budapest.

Nach der Stippvisite 2021 in Tokio gehört Karate im kommenden Jahr in Paris übrigens nicht mehr zum olympischen Programm. „Reems große Hoffnung ist daher 2028 Los Angeles“, so Becker.