Hamburg. Das Hamburger Abendblatt begleitet vier Hamburger Sportlerinnen und Sportler auf ihrem Weg nach Tokio.
Sie standen alle schon einmal an diesem Punkt. Vor einem Jahr, als das Abendblatt die vier Protagonisten zum Auftakt dieser Serie gebeten hatte, sechs Monate vor dem Start der Olympischen Sommerspiele in Tokio ihre Emotionen im Hinblick auf das größte Sportevent der Welt zu schildern, hatten sie den Countdown zu ihrem persönlichen Lebenstraum gestartet. Was folgte, ist bekannt: Die Spiele in Japans Hauptstadt wurden Ende März um ein Jahr verschoben und sollen nun vom 23. Juli bis 8. August stattfinden.
Wie hat sich nun, da der Countdown ein zweites Mal gestartet ist, ihre Gefühlswelt verändert? Was haben die Sportlerinnen und Sportler aus der Corona-Zwangspause gelernt, und wie denken sie über die Diskussionen, die um die Austragung der Spiele und deren mögliche Rahmenbedingungen entbrannt sind? Darüber sprechen sie im sechsten Teil der Serie:
Julius Thole: Beachvolleyball
Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass Julius Thole aktuell der Entspannteste des Quartetts ist, obgleich er vielleicht am härtesten gearbeitet hat in den vergangenen Wochen. Was paradox klingt, hat eine einfache Erklärung. Während der überwiegende Teil der deutschen Olympiakandidaten in der Heimat zwar trainieren darf, aber ansonsten die Lockdown-Vorschriften beherzigen muss, landete der 23-Jährige vom Eimsbütteler TV mit seinem Spielpartner Clemens Wickler (25) nach fast drei Wochen Trainingslager auf Fuerteventura erst am Mittwoch wieder in Hamburg. „Natürlich war es ein Traum, aus der Hamburger Kälte herauszukommen und Sonne zu tanken“, sagt Thole, der bei gut 20 Grad im Robinson Club beste Bedingungen genießen durfte. „Das Hotel war nur zur Hälfte ausgelastet, wir fühlten uns sehr sicher und konnten abgeschottet und in Ruhe arbeiten“, sagt er.
Wenn Julius Thole seine aktuelle Gemütslage mit der von vor einem Jahr vergleicht, dann stellt er fest, „dass ich mich deutlich besser gewappnet fühle. Meine Erwartungen an Olympische Spiele waren riesig, aber von diesen Vorstellungen habe ich mich verabschiedet“, sagt er. Vor allem habe ihn das Corona-Jahr 2020 gelehrt, spontaner zu sein und Rückschläge besser verkraften zu können. „Ich weiß jetzt, dass nichts planbar ist. Dennoch haben wir drei oder vier verschiedene Pläne und sind darauf vorbereitet, diese jederzeit anzupassen. Was auch immer passiert: Ich nehme es entspannter hin als vor einem Jahr“, sagt er.
Der 2,06 Meter lange Angreifer hat gegenüber vielen, die noch um ihre Tokio-Teilnahme bangen, weil nicht einmal feststeht, wann Qualifikationswettkämpfe stattfinden können, einen Vorteil. Als Vizeweltmeister von 2019 ist er für seine Olympiapremiere qualifiziert. „Natürlich kann ich so einige Dinge lockerer sehen. Deshalb glaube ich auch, dass wir im Vergleich zu vor einem Jahr auf einem besseren Stand der Vorbereitung sind. Physisch haben wir ganz andere Grundlagen gelegt und können im technischen Bereich zielgerichteter arbeiten“, sagt der Jurastudent.
Was fehlt, ist das Abgleichen der Form auf internationalen Wettkämpfen. Die mit Platz 17 verkorkste EM im September 2020 habe man abgehakt, Anfang Februar steht in Düsseldorf der „Nations Clash“ als internationales Einladungsturnier an, vom 8. bis 12. März soll in Doha das erste Weltserienturnier möglich sein. Die Diskussion um die Austragung der Spiele hat Julius Thole zwar mitbekommen, aber nicht an sich herangelassen. „Wir tun gut daran, uns damit nicht zu viel zu befassen“, sagt er. Seine Priorität sei klar: „Wenn Wettkämpfe in Tokio sicher möglich sind, soll Olympia stattfinden.“ Kompromisse wie den Ausschluss von Zuschauern, das Auslagern von Athleten aus dem olympischen Dorf in Hotels oder die Zustimmung zu einer Schutzimpfung würde er mittragen. „Auch wenn es mich sehr betrüben würde, auf große Teile, die Olympia ausmachen, zu verzichten: Wir dürfen uns keine Extrawürste herausnehmen.“
Amelie Wortmann: Hockey
Auf eine solche Idee würde Amelie Wortmann niemals kommen. Die Mittelfeldspielerin vom Uhlenhorster HC hat sich mit allen Einschränkungen, die die Pandemie mit sich gebracht hat, arrangiert und teilt Julius Tholes Ansichten bezüglich der Austragung der Spiele. „Ich wünsche mir sehr, dass es Zuschauer gibt und ein Dorf für alle Teilnehmenden. Aber ich bin bereit, auf all das zu verzichten, wenn es notwendig ist, damit Olympia stattfinden kann“, sagt sie. Da auch sie in Tokio ihre Premiere unter den fünf Ringen erleben würde, hat sie keinen Vergleich zu anderen Spielen. „Für mich ist sowieso alles neu, entsprechend ist auch die Vorfreude jetzt nicht anders als vor einem Jahr.“
Für die 24-Jährige steht in den kommenden Monaten im Fokus, sich überhaupt ihren Platz in der Auswahl von Bundestrainer Xavier Reckinger zu sichern. Das Ticket hatten die deutschen Damen im November 2019 gelöst, die Besetzung der Mannschaft wird sich allerdings endgültig erst bei der EM Anfang Juni in Amsterdam herausstellen. Die Vorbereitung darauf ist längst angelaufen. Am vergangenen Sonntag war Amelie Wortmann von einem zehntägigen Lehrgang aus Mannheim zurückgekehrt, in der kommenden Woche steht an selber Stelle für sechs Tage bereits das nächste Trainingslager an. Was ihr fehlt, das sind die Wettkämpfe gegen internationale Konkurrenz.
„Wir versuchen, das in internen Spielen zu simulieren und können uns glücklich schätzen, dass wir in Deutschland so viele gute Hockeyspielerinnen haben, dass wir untereinander hochklassige Trainingsmatches austragen können“, sagt sie, „aber natürlich ist es etwas anderes, wenn man gegen externe Gegner gefordert wird.“ Umso größer ist die Vorfreude darauf, dass Anfang März die ersten Spiele der Nationenliga Hockey Pro League gegen Weltmeister Niederlande vorgesehen sind. „Mein letzter echter Wettkampf waren die Bundesligaspiele im Oktober. Solch eine lange Pause hatte ich wirklich noch nie“, sagt sie.
Um dennoch den Fokus zu halten, vertraut die Psychologiestudentin, die vor Kurzem ihre Bachelorarbeit zum Thema „Sprachentwicklung bei Kleinkindern“ fertiggestellt hat, weiterhin auf die Unterstützung von Mentaltrainerin Anett Szigeti, die freiberuflich am Olympiastützpunkt Hamburg arbeitet und mittlerweile für das gesamte deutsche Hockeyteam verantwortlich ist. „Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich mit der Ungewissheit rund um Olympia besser umgehen kann als im vergangenen Jahr. Ich habe gelernt, flexibler zu sein“, sagt sie.
Torben Johannesen: Rudern
Flexibel zu sein, darin musste sich in dieser Woche auch Torben Johannesen wieder einmal üben. Die Taschen für das von Mittwoch an geplante Trainingslager in Avis (Portugal) waren bereits gepackt, als am Dienstagmittag die Absage erfolgte. Wegen der explodierenden Infektionszahlen auf der Iberischen Halbinsel kann das Team Deutschlandachter, zu dem der 26-Jährige vom RC Favorite Hammonia seit 2017 zählt, die Reise nicht antreten. Stattdessen wird weiterhin am Bundesstützpunkt der Riemenruderer in Dortmund trainiert. „Natürlich ist das nicht optimal, aber wir sind es ja schon gewohnt, dass sich Pläne kurzfristig ändern, und hoffen jetzt, dass wir Ende Februar nach Portugal fliegen können“, sagt er.
Der Lehramtsstudent ist der Einzige des Abendblatt-Quartetts, der schon olympische Luft geatmet hat. In Rio de Janeiro war er 2016, als sein Bruder Eric (32) mit dem Achter Silber holte, als Ersatzmann dabei. Nun hat er, da er mit dem deutschen Paradeboot bei der
WM 2019 in Linz (Österreich) das Tokio-Ticket löste, seinen Platz sicher. Umso intensiver verfolgt er die Diskussionen, die in den vergangenen Tagen an Fahrt aufgenommen haben. „Wir diskutieren viel darüber, und das beeinträchtigt auch den Trainingsalltag. Aber wir versuchen auch locker zu bleiben, da wir es eh nicht beeinflussen können“, sagt er.
In 2020 war die EM im Oktober in Polen der einzige internationale Wettkampf für die Ruderer. Wann es in diesem Jahr wieder losgeht, bleibt unklar, der provisorische Kalender sieht im April die EM in Varese (Italien) ebenso vor wie alle Weltcuprennen und die finale Olympiaqualifikation Ende Mai in der Schweiz, bei der alle nicht bei der WM 2019 qualifizierten Boote eine weitere Chance erhalten. Für Torben Johannesen steht, wenn er an diese Saison denkt, aber sowieso nur eine Sache im Vordergrund. „Ich will, dass der Wettkampf in Tokio stattfindet. Natürlich wäre ein Verzicht auf Zuschauer schade, und ein olympisches Dorf wäre sicherlich schön. Aber es muss alles nicht sein, wenn es nicht geht“, sagt er. Da er im Herbst eine Covid-19-Erkrankung durchgestanden hat und alle Tests auf Spätfolgen ohne Beanstandung absolvieren konnte, hat er sich zum Thema Schutzimpfung noch keine abschließende Meinung gebildet. Aber letztlich würde er alles tun, um die Goldmedaille, die er unbedingt haben will, holen zu können.
Julia Mrozinski: Schwimmen
So weit würde Julia Mrozinski nicht gehen. Überhaupt ist die Freistilspezialistin von der SGS Hamburg diejenige, die an den unsicheren Umständen am meisten zu knabbern hat. „Ich bewundere die Leute, die die Diskussionen um die Spiele ausblenden können. Ich arbeite seit 15 Jahren darauf hin, mir den Traum von einer Olympiateilnahme erfüllen zu können. Wenn ich dann die ganzen schlechten Nachrichten höre, ist es mir unmöglich, mich damit nicht zu beschäftigen“, sagt die 20-Jährige.
Obwohl sie Olympia als Lebenstraum beschreibt, wäre sie auch nicht bereit, dafür alles zu opfern, nur um den Wettkampf bestreiten zu können. Das liegt zum einen daran, dass sie ein Bild vom weltgrößten Sportereignis vor Augen hat, das mit dessen Ursprung als Treffen der Jugend der Welt zusammenhängt. „Ich fände es sehr schade, wenn es kein olympisches Dorf gäbe. Das wäre nicht das, was ich unter Olympia verstehe, der Spirit der Spiele würde erheblich leiden“, sagt sie.
Zum anderen liegt ihre Einstellung auch darin begründet, dass sie für Tokio noch nicht qualifiziert ist und sich einen Platz in der 4x100-Meter-Freistilstaffel erst erkämpfen muss. Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) hat dafür einen Zeitraum Ende April benannt.
Allerdings sind bis dahin keinerlei Trainingslager angesetzt, einen provisorischen Wettkampfkalender und mithin ein Ziel, auf das sie hinarbeiten könnte, gibt es ebenso nicht. Weil sie auch 2020 keine Möglichkeit hatte, sich im Wettkampf zu messen, nagt die Ungewissheit immer stärker an ihr.
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„Ich schwimme, weil ich gut darin bin und Erfolg haben möchte. Wenn es aber keine Anlässe dafür gibt, dann ist Schwimmen ganz besonders hart, denn es ist einfach kein interessanter Trainingssport“, sagt sie. „Aktuell hangele ich mich von Einheit zu Einheit. Mein größter Erfolg ist, wenn ich wieder eine Woche überstanden habe. Aber ich will mir niemals vorwerfen müssen, nicht 100 Prozent gegeben zu haben“, sagt die Schülerin der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg, die in diesem Sommer ihr Abitur macht.
Das größte Geschenk in dieser dunklen Phase, sagt Julia Mrozinski, sei die zusätzliche Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen könne. Da sie nach den Tokio-Spielen zum Studieren in die USA gehen wird, genießt sie das intensive Familienleben. Die kleinen Dinge zu schätzen und das Beste aus dem zu machen, was möglich ist – das ist es, was Hamburgs Olympiakandidaten für Tokio aus dem Krisenjahr gelernt haben.