Oyama. Annika Zeyen siegte bei den Paralympics 2012 im Rollstuhlbasketball. 2017 wechselte sie die Sportart – und schrieb jetzt Geschichte.
Annika Zeyen hat neun Jahre nach ihrem Triumph im Rollstuhlbasketball die vierte deutsche Goldmedaille bei den Paralympics in Tokio gewonnen – diesmal aber im Radfahren. Die querschnittsgelähmte Bonnerin gewann am Dienstag das Zeitfahren auf der ehemaligen Formel-1-Strecke am Fuße des Fuji und hatte nach 32:46,97 Minuten rund eine dreiviertel Minute Vorsprung.
„In zwei verschiedenen Sportarten Gold zu gewinnen, ist unglaublich. Das kann man nicht toppen“, sagte die 36-Jährige, die 2017 zum Handbike wechselte und erst seit zwei Jahren internationale Rennen bestreitet: „Das war wirklich ein guter Augenblick, um mein allererstes Zeitfahren zu gewinnen.“
Annika Zeyen schreibt Paralympics-Geschichte
Sie habe das auch nicht erwartet. „Und ich hatte auch das ganze Rennen über nicht das Gefühl, dass es übermäßig gut lief.“ Selbst im Ziel habe sie gedacht, „dass ich bestenfalls Zweite bin.“ Als ihr klar wurde, dass sie gewonnen hat, stieß Zeyen einen spitzen Freudenschrei aus.
Ihre für diesen Sommer geplante Hochzeit hatte Annika Zeyen verschoben, um ein Stück Paralympics-Geschichte zu schreiben. Der Plan ging auf. Und als sie tatsächlich in der zweiten Sommer-Sportart Paralympics-Gold gewonnen hatte, war ihr Verlobter der erste Gratulant. Von England aus rief er eine Kollegin Zeyens an und ließ sich durchstellen. „Schön, wenn man Kolleginnen im Ziel hat“, sagte Zeyen, die als Brand Manager für das Internationale Paralympische Komitee (IPC) arbeitet.
Zeyen spielte drei Jahre für die BG Baskets Hamburg
In Zeiten der Professionalisierung im Para-Sport sind Siege in zwei so unähnlichen Sportarten eigentlich kaum machbar. „Schon als Basketballerin bin ich für die Ausdauer immer Handbike gefahren. So ganz abwegig war das also nicht“, sagte Zeyen lachend. Als sie 2016 ihre Basketball-Karriere bei den BG Baskets Hamburg beendete, für die sie drei Jahre gespielt hatte, versuchte sie sich dennoch zuerst als Rennrollstuhlfahrerin in der Leichtathletik. „Das hat mir Spaß gemacht, aber ich konnte es verletzungsbedingt nicht fortsetzen“, sagte sie: „Heute bin ich überglücklich, dass ich das Handbike gewählt habe.“
Mit Basketball hatte sie aufgehört, um sich nicht mehr nach den Trainingszeiten des Vereins und der Nationalmannschaften richten zu müssen. „Im Einzelsport trainiert man nicht weniger, aber flexibler“, sagte sie. Und obwohl die beiden Sportarten sich auf den ersten Blick grundlegend unterscheiden, hat sie viel aus ihrer ersten Karriere mitgenommen. „Ich war schon viele Jahre Leistungssportlerin“, sagte sie: „Ich weiß, was es heißt, sich zu quälen. Und ich bin sehr ehrgeizig und trainingsfleißig.“
Deshalb wurde nach der corona-bedingten Absage der Spiele im Vorjahr sogar die Hochzeit verschoben. Doch nun wird Annika Zeyen als doppelte Paralympicssiegerin vor den Altar treten.
Majunke holt Dreirad-Gold
Zeyens Sieg war der sportliche Höhepunkt an einem aus deutscher Sicht sehr emotionalen Tag auf der ehemaligen Formel-1-Strecke am Fuße des Fuji. Jana Majunke (Cottbus) gewann im Alter von nur 21 Jahren im Dreirad-Rennen Gold. Ihre 23 Jahre ältere Vereinskollegin Angelika Dreock-Käser, die nach einem Schlaganfall erstmals bei Paralympics startete, holte Bronze und widmete die Medaille ihrem vor vier Wochen verstorbenen Mann. „Er ist in meinem Herzen dabei“, sagte Dreock-Käser: „Er hat sich so gewünscht, dass ich hier dabei bin. Und er hat sich so gefreut, dass wir eine Medaille gewinnen werden.“
Erwartungsgemäß hübschten die Radsportler die deutsche Bilanz in Japan am Zeitfahrtag enorm auf. Rio-Champion Vico Merklein gewann Silber, Fahnenträger Michael Teuber und Kerstin Brachtendorf holten jeweils Bronze. In der Klasse C3 holten die Münchner Steffen Warias und Matthias Schindler Silber und Bronze. Denise Schindler und Andrea Eskau erlebten dagegen herbe Enttäuschungen.
Teuber verpasst historisches fünftes Gold
Merklein verpasste mit dem Handbike sein zweites Gold bei den Paralympics nur um zwei Sekunden, holte aber als Zweiter sein insgesamt viertes Edelmetall. „Mehr ging nicht. Ich bin total glücklich, dass es ist, wie es ist. Klar kann man noch einen besser fahren, aber das machen wir in drei Jahren“, sagte der 44-Jährige.
Teuber verpasste sein historisches fünftes Gold nacheinander im Zeitfahren nur um fünf Sekunden, holte bei seinen sechsten Spielen erstmals Bronze. „Ich bin stolz drauf, dass ich so stark gefahren bin. Wenn ich auf meine Leistungsdaten schaue, denke ich, dass es das beste Rennen meines Lebens war“, sagte der Münchner: „Mehr ist einfach nicht möglich gewesen, deshalb nehme ich Bronze gerne mit nach Hause.“
Brachtendorf gewinnt überraschend Bronze
Eine Überraschungsmedaille gewann Brachtendorf in der Startklasse C5. Die 49-Jährige holte als Dritte ihr erstes Edelmetall bei Paralympics. Erst drei Wochen vor den Spielen musste sich die Cottbuserin wegen eines Verschlusses der inneren Beckenarterie operieren lassen. „In meinem Kopf war schon alles abgesagt“, sagte Brachtendorf: „Jetzt stehe ich hier und habe eine Medaille, unfassbar.“
Denise Schindler enttäuschte nach Rang drei in der Bahn-Verfolgung im Zeitfahren der Klassen C1 bis C3 als Neunte. „Es war schlecht. Ich habe vom Start weg einen schwarzen Tag erwischt“, sagte die 35-Jährige. Auch Dauerbrennerin Andrea Eskau verpasste mit dem Handbike nach einem Einbruch das Podest. Nach Zwischenbestzeit wurde die 15-malige Medaillengewinnerin mit einem Rückstand von 4:30 Minuten Fünfte.
Pierre Senska verpasste als Vierter in der Teuber-Startklasse eine Medaille nur knapp, Bernd Jeffre war dagegen mit dem Handbike als Achter abgeschlagen. Im Leichtathletik-Stadion freute sich derweil Titelverteidiger Sebastian Dietz (Bay Oeynhausen) über Bronze im Kugelstoßen.