Hamburg. Vor einem Jahr begann das Coronavirus, die Welt des Sports lahmzulegen. Es sind kuriose und schöne Erinnerungen, die geblieben sind.
Dem einen oder anderen ist tatsächlich wehmütig geworden, als er diese Woche zurückdachte an jene Tage, die wohl für immer die seltsamsten in unserem Leben bleiben werden: die letzten Momente vor dem Lockdown, als dieses Wort „Corona“ noch ein bisschen unsicher und vor allem unerkannt durch die Lüfte flatterte, gerne belächelt oder sogar ignoriert. Dann sollte alles ganz anders kommen. Sechs Sportreporter des Abendblatts erinnern sich.
HSV-Spiel: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
Freitag, der 13. März, war gleich aus mehreren Gründen ein historischer HSV-Tag. Denn eigentlich wollte der HSV – kurz vor dem bevorstehenden Lockdown – zum ersten Geisterspiel der Clubgeschichte bei der SpVgg Greuther Fürth antreten. Zwar hatte die Deutsche Fußball Liga (DFL) bereits am Vormittag entschieden, den Spielbetrieb aufgrund der Corona-Situation vorerst einzustellen.
Allerdings hieß es am Mittag, dass an diesem Spieltag doch noch der Ball rollen sollte. Während also der HSV-Tross im Nürnberger Sheraton Hotel zu Mittag aß und Bayerns Chef Karl-Heinz Rummenigge im nicht weit entfernten München bekräftigte, dass ein Festhalten des Spielbetriebs oberste Priorität habe („Es geht am Ende des Tages um die Finanzen“), machten sich die Hamburger Journalisten mit dem ICE 587 auf den Weg nach Fürth. Dass es eine Zugfahrt ins Nirgendwo werden sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen.
Doch fast pünktlich mit der Ankunft in Fürth um 15.38 Uhr hatte es sich die DFL dann doch anders überlegt. „Nach aktuellen Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Coronavirus: DFL beschließt Verlegung des 26. Spieltags der Bundesliga und der 2. Bundesliga“, stand in dem Kommuniqué, das wenig später verschickt wurde. Die Konsequenz? Eine fettige Pizza am Bahnhof, ein paar Telefonate und mit dem nächsten Zug aus Fürth wieder zurück nach Hamburg. Im Zug entstand der Artikel „Die Chronik einer Absage“ über die erste Corona-bedingte Spielverlegung und das sichere Gefühl, dass der HSV nach diesem Freitag, dem 13., eine ganze Weile nicht mehr Fußball spielen wird.
Scherze über ein China-Büfett
Ballkinder, die schwarze Kunststoffhandschuhe überziehen mussten, um den Tennisprofis die gelben Filzkugeln zu reichen – es ist dieses Bild, das sich eingebrannt hat vom letzten Reportererlebnis in der Prä-Corona-Normalität. Beim Daviscup-Duell der deutschen Herren gegen Weißrussland gab es am 7. März 2020 wohl kaum jemanden, der diese Maßnahme nicht für aktionistisch hielt. Natürlich hatte man gehört von diesem Virus, das im Anrollen war. Aber die hastig aufgestellten Spender mit Desinfektionsmittel ließen die meisten Besucher im Castello Düsseldorf unbenutzt. 3000 Menschen durften den Assen zuschauen. Abstand, den der Rheinländer grundsätzlich wenig schätzt, war kein Thema. Hinter vorgehaltener Hand – Masken trug ja niemand – wurden Scherze über ein chinesisches Büfett im VIP-Raum mit den Resten vom Tiermarkt in Wuhan gemacht. Kolleginnen und Kollegen, die die Anreise nach Nordrhein-Westfalen gescheut hatten, wurden als hysterisch abgetan.
Die Rückkehr ins Hotel war dann jedoch das erste Treffen mit der neuen Realität. Laut einer Verordnung der Landesregierung musste der Speisesaal geschlossen bleiben. Wo eben noch 3000 Menschen den 4:1-Sieg der deutschen Tennisherren gefeiert hatten, durften nicht mal mehr zehn Hotelgäste gemeinsam essen. Tennis gespielt wurde 2020 vergleichsweise noch relativ viel, am Hamburger Rothenbaum im September sogar mit 2000 Zuschauern. Die Daviscup-Endrunde in Madrid aber, für die sich die deutschen Herren in Düsseldorf qualifiziert hatten, wurde um ein Jahr auf November 2021 verlegt. Und an Ballkinder mit Handschuhen haben wir uns längst gewöhnt.
Sehnsucht nach Sandhausen
Ach, Sandhausen, du Sehnsuchtsort eines Fußball-Anhängers! 9872 Zuschauer hatten sich am Sonntag, dem 8. März, im Hardtwaldstadion der badischen Kleinstadt versammelt, um das Spiel des SV Sandhausen gegen den FC St. Pauli in der Zweiten Bundesliga mitzuerleben. Es roch nach Bratwurst und Bier. Fangruppen standen eng an eng, sangen und feierten und pöbelten. Auf der Sitzplatztribüne gab es Lücken, die nichts mit Abstandsregeln zu tun hatten. Das Spiel endete 2:2 und war eigentlich zum Vergessen – wenn es nicht unvergesslich geworden wäre. Wegen der Umstände.
Es war St. Paulis bislang letztes Spiel in einem „voll besetzten“ Stadion. Obwohl die Pandemie schon im Anzug war, damals in Sandhausen. Man hörte davon in den Nachrichten, China, Bologna, sie rückte näher, war aber noch weit weg.
Die S-Bahn von Mannheim über Heidelberg nach Sandhausen war proppevoll mit St.-Pauli-Fans. Ihr Bierchen hatten sie dabei, Mittagsschoppen am Sonntag in der Bahn. Polizisten guckten skeptisch, eskalierten aber nicht. Alles gut, alles wie immer. Nur das Repertoire der Hamburger Fanchoräle hatte sich erweitert: „St. Pauli und Corona – wir sterben sowieso!“ Lustig. Und jetzt alle zusammen. Im engen Bus ging es dann zum Stadion, dicht an dicht, natürlich trug noch niemand Maske. Himmelmann war stark, nur Benatelli war aus St. Paulis Startformation von damals auch am vergangenen Sonnabend in Karlsruhe dabei. Eine andere Zeit. Ach, Sandhausen! ah
Ein Satz wie ein Damoklesschwert
Aus heutiger Sicht wirkt der damalige 34:28-Heimsieg wie eine Initialzündung für das, was der Handball Sport Verein Hamburg dieser Tage erlebt. Als Tabellenführer werfen die Zweitligahandballer im März 2021 um den Bundesliga-Aufstieg. Die Leistung am 8. März 2020 war erstligareif. Das Spiel gegen die SG BBM Bietigheim verlief „nah am Optimum“ (Trainer Torsten Jansen). Der Angriff-Abwehr-Wirbel von Leif Tissier & Co. sollte die Messlatte für kommende Auftritte sein. Es war vor einem Jahr jedoch auch das letzte Profihandballspiel der später abgebrochenen Saison 2019/20, das bundesweit angepfiffen wurde.
Ein letztes Mal bevölkerten 3117 Fans an jenem späten Sonntagnachmittag die Sporthalle Hamburg. Ein letztes Mal feuerten sie die Mannschaft lautstark an, versammelten sich nach Spielschluss in Trauben zum Plausch um „ihre Jungs“, verfolgten eng an eng die Pressekonferenz im Hallenumlauf. Schon da dämmerte vielen: „Wer weiß, wann es das das nächste Mal geben wird.“ Sie sollten recht behalten.
Einem noch gemäßigten Interview zur Epidemie-Lage in der „Bild am Sonntag“ schob Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an jenem Morgen um 9.02 Uhr via Twitter nach: „Sicherheit geht vor. Daher werden mehr Großveranstaltungen abgesagt werden müssen.“ Um 15.08 Uhr schließlich tickerte die Deutsche Presse-Agentur Spahns Verbotsvorschlag von Veranstaltungen mit mehr 1000 Besuchern. Ein Satz, der vor, während und nach dem Hamburger Handballspiel um 17 Uhr schnell die Runde machte, wie ein Damoklesschwert über der Bewertung der Begegnung lag: bei Spielern, Fans und Verantwortlichen. Am 12. März setzte die Zweite Liga ihren Spielbetrieb für fünf Spieltage bis Ende April aus, ehe der Abbruch folgte.
Gestrandet am Ende der Welt
Am Montagmorgen in Neuseeland wusste Leonie Meyer nicht mehr weiter. Die Kieler Kitesurferin benötigte einen väterlichen Rat, weshalb am Sonntagabend bei Klaus Lahme im zwölf Stunden und knapp 18.000 Kilometer entfernten Hamburg das Telefon klingelte. Der Clubmanager und Sportdirektor des Norddeutschen Regatta Vereins (NRV) nahm sich die Zeit, versuchte, sein Olympic-Team-Mitglied zu beruhigen. Sie solle in Down Under bleiben. Dort, in Auckland, könne sie ja noch trainieren, sei die Pandemie nicht so weit fortgeschritten wie in Deutschland, wo am und im Wasser bald nichts mehr möglich sei, sagte Lahme.
Die damals 27-jährige Meyer war am anderen Ende der Welt gestrandet. Via Facebook ließ sie ihre Follower, Freunde und auch das Abendblatt an ihrer Zerrissenheit teilhaben. Einerseits gehe es ihr in Neuseeland gut, seit Ende Februar trainiere sie unter den besten Voraussetzungen ihres Sportlerlebens, absolvierte gleichzeitig ein Praktikum im North Shore Hospital. Andererseits will die Medizinstudentin im achten Semester zurück nach Deutschland, in den hiesigen, sich mit Patienten füllenden Kliniken helfen, in der Krise bei Familie und Freund sein.
Wenige Tage später ging auch Neuseeland in den Lockdown, der Inselstaat schottete sich gegen das Virus ab, der Lahme’sche Rat war überholt. Zwei geplante Rückflüge nach Deutschland wurden gecancelt, das deutsche Konsulat war nur noch per Bandansage erreichbar. Erst mit Wiederaufnahme des Rückführungsprogramms der Bundesregierung kehrte die deutsche Meisterin im Kite-Racing am 8. April zurück nach Kiel.
Im September wurde sie EM-Zweite im Mixed. „Das Corona-Jahr lehrte mich, dass man so viel planen kann, wie man möchte, und sich dann doch alles ändern kann“, sagt sie heute. Ende April erwartet Leonie Meyer ihr erstes Kind – ein Lockdown-Baby.
Corona? Jetzt ist Fußball!
Freitag, 6. März 2020, 17.30 Uhr. Ich sitze in der Buslinie 154 Richtung Hove- stieg. Einen Katzensprung entfernt, auf dem Kunstrasenplatz in der Slomanstraße im Stadtteil Veddel, steigt in 90 Minuten das Duell zwischen Klub Kosova und Aufstiegskandidat ASV Hamburg. Sechste Liga, genauer: Landesliga Hansa. Eigentlich nutze ich die Anfahrt stets zur Spielvorbereitung. Doch nun dreht sich alles nur um einen Gedanken: Werde ich den Trainern vor dem Spiel die Hand geben? Der Hamburger Fußball-Verband hat allen Teams empfohlen, auf Handshakes vor dem Spiel zu verzichten. Wegen des Coronavirus. Ich ziehe noch im Bus meine Handschuhe an.
Eine Stunde vor Spielbeginn treffe ich ein. Trainer und Teams sind noch in den Kabinen. Ich plaudere mit zwei älteren ASV-Fans über das Spiel, Corona spielt plötzlich keine Rolle mehr. Schließlich kommt Daniel Sager auf mich zu. St. Paulis Ex-Profi und Coach der Kosovaren. Reflexartig ziehe ich meine Handschuhe aus, schüttele ihm die Hand. Ich bin halt höflich. Und mir ist unwohl. Vor dem Anpfiff begrüßen sich die Teams wie vom Verband empfohlen per Faustgruß.
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Einige Spieler lachen. Corona? Jetzt ist Fußball! Die leidenschaftliche Partie endet 1:1. Kurz vor dem Abpfiff sieht Kosovas Dorian Bella die Ampelkarte. Berechtigt. Bella findet das nicht. Intensiv redet er auf Schiedsrichter Möller ein. „Dorian“, schreit Sager genervt. „Dorian, komm runter! Was willst du da noch?“ Im Kreis spricht ASV-Coach Gazi Mustapha seinen Spieler Mut für den Aufstiegskampf zu. Kurz darauf verlässt der Hamburger Amateurfußball vorläufig die Bühne.
Mike Taylors letzter Talk
Wer sich mit dem energiegeladenen Mike Taylor unterhielt, konnte eigentlich nicht verstehen, warum die Hamburg Towers in der vergangenen Saison so eine lange Niederlagenserie in der Basketball-Bundesliga hinlegen konnten. Mir ging es genauso bei meiner ersten Presserunde mit dem Coach. Am 5. März saßen wir im „Towers Time out“ unweit der edel-optics.de Arena. Ich durfte (endlich!) aushelfen, keiner der Reporter hatte Zeit.
Im Café-Bistro lieferte der 47-Jährige vor der Partie in Göttingen einen weiteren Beleg für seinen unerschütterlichen Optimismus – trotz der sieben Niederlagen in Serie, verbunden mit dem Sturz ans Tabellenende. Am 13. März, wenige Tage nach der erneut bitteren 95:101-Niederlage, informierte Geschäftsführer Marvin Willoughby die Spieler über die Saisonunterbrechung. Vier Wochen später sollte es weitergehen. Pustekuchen. Die abgebrochene Saison war für die Towers gleichbedeutend mit der Rettung, aber auch dem Aus für Taylor, der nicht mehr beweisen konnte, dass er die Wende wirklich hinbekommen hätte. Und ich hatte im Nachhinein zwei Gespräche mit Taylor geführt. Das erste und das letzte.