Hamburg. Die Boxer Artem und Robert Harutyunyan wollen an diesem Sonnabend in Hamburg ihre Profikarrieren richtig in Schwung bringen.

„Live fast“ steht auf der schwarzen Baseballkappe, die Robert Harutyunyan trägt. Er hat sie ohne Hintergedanken aufgesetzt, einfach weil sie zu seinem Style passt. Und dennoch ist die Mütze an diesem Frühsommermittag an der Binnenalster, an dem der Leichtgewichts-Boxprofi und sein Bruder Artem über ihre nächsten Pläne sprechen wollen, ein wichtiges Detail. Weil sie das einzige Teilchen ist, das sich nicht makellos in das Karrieremosaik einfügt, das die beiden Hamburger Topathleten entworfen haben. Und an dessen Vervollständigung sie an diesem Sonnabend (18.30 Uhr) arbeiten, wenn sie in der „Work your Champ“-Arena an der Großen Elbstraße ihre jeweils vierten Profikämpfe bestreiten.

Ein schnelles Leben, wie es die Aufschrift auf dem Cap suggeriert, ist das genaue Gegenteil dessen, was sich die Harutyunyan-Brüder im vergangenen Jahr verordnet haben. Entschleunigung war das, was sie wollten, um nach den turbulenten Jahren im Amateurboxen den Schritt in den professionellen Faustkampf überlegt gehen zu können. „Wir haben uns bewusst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sind von Schwerin nach Hamburg zurückgekehrt und tun hier seit Monaten nichts anderes als trainieren, essen und schlafen“, sagt Artem. Seit Jahren schon planen sie ihre Laufbahn akribisch. Sie sind höchst diszipliniert, halten auch in kampffreier Zeit penibel ihr Gewicht, essen aus gesundheitlichen Gründen vegan, sind pünktlich, höflich, geschäftstüchtig, auch wenn sie manchmal wie Sprachroboter wirken mit ihren mantraartig wiederholten Lebensweisheiten. Alles, was sie tun, ist wohl überlegt und kalkuliert. „Live fast“ geht definitiv anders.

 Artem hatte eine Pause nötig

Besonders Artem hatte eine Pause nötig. 2015 war der Halbweltergewichtler Weltmeister in der semiprofessionellen Serie APB geworden. 2016 hatte er dem Deutschen Boxverband (DBV) in Rio als einziger deutscher Medaillengewinner mit Olympiabronze die Fördermittel für den Zyklus bis Tokio 2020 gesichert. Im vergangenen Jahr hatte er bei der WM in Hamburg sportlich mit dem Viertelfinalaus die Erwartungen zwar nicht erfüllt, sich aber als Botschafter für seine Heimatstadt profilieren können.

Dass es für einen wie ihn mehrere Angebote aus dem Profilager geben würde, war keine Überraschung. Aber weil kein Promoter seinem Bruder eine adäquate Chance einräumen wollte, entschieden sich die im Kleinkinderalter aus Armenien nach Hamburg geflohenen Harutyunyans für den Weg in die Selbstständigkeit. Unterstützt von Geldgebern, die im Hintergrund bleiben wollen, ihnen aber „finanziell den Rücken frei halten, damit wir uns auf den Sport konzentrieren können“, von ihrem Manager Ismail Özen und ihrem Trainer Artur Grigorian. „Für uns sind zwei Dinge wichtig“, sagt Artem, „dass wir bestimmen können, wann und gegen wen wir boxen und wie wir unser Training steuern. Und dass wir unseren Weg gemeinsam gehen können.“

 Tage verbringen sie gemeinsam

Seit der Rückkehr aus Schwerin, wo sie am Bundesstützpunkt von Michael Timm aufgebaut wurden, nach Hamburg teilen sie zwar nicht mehr Tisch und Bett, sondern leben mit ihren Partnerinnen zusammen, Robert in Eimsbüttel, Artem in Wandsbek. Artemlos durch die Nacht, das mag nun auch für Robert gelten. Die Tage jedoch verbringen sie weiterhin gemeinsam, und weil sich Robert mit 29 Jahren noch zu jung fühlte, um die ihm avisierte Trainerlaufbahn einzuschlagen, haben sie Angebote diverser Promoter ausgeschlagen und abseits des Rampenlichts ihre Profikarrieren gestartet. Nach dem Debüt im November 2017 in Hamburg folgten Kämpfe in München und Karlsruhe, von denen kaum jemand Notiz nahm. „Das war genau so geplant, um in Ruhe starten zu können. Aber jetzt wollen wir zurück ins Rampenlicht“, sagt Artem (27).

Es gibt einige Beobachter in der Boxszene, die diesen Weg nicht für sinnvoll erachten. „Ich stelle fest, dass die beiden von der Bildfläche verschwunden sind“, sagt DBV-Präsident Jürgen Kyas. „Ich habe erhebliche Zweifel daran, dass sie unter diesen Umständen ihre Ziele erreichen werden, und hätte mir gewünscht, dass sie bei den Amateuren geblieben wären, wo sie mit ihrem erarbeiteten Status eine tolle Zukunft gehabt hätten.“ Gleichwohl betont er, dass der Wechsel zu den Profis sehr fair abgelaufen sei; anders als bei vielen anderen Amateuren, die zuletzt die Seiten wechselten. „Ich wünsche beiden deshalb nur das Beste.“

Stadt sieht Brüder als Partner bei Integration

Tatsächlich sind die Brüder angesichts ihrer Lebensgeschichte für die Stadt weiterhin wichtige Partner beim Thema Integration. „Natürlich war ihre Präsenz, besonders die von Artem, nach Rio und während der WM deutlich höher. Aber wir sehen uns noch regelmäßig und haben die beiden auf dem Schirm“, sagt Sportstaatsrat Christoph Holstein.

Im nach dem Ausstieg der öffentlich-rechtlichen Sender und dem Rücktritt von Wladimir Klitschko darbenden deutschen Berufsboxen ist es aktuell in Mode, auf behutsam ausgewählte Aufbaugegner zu verzichten und gleich volles Risiko zu gehen. Die Harutyunyans halten das für falsch. Sie setzen auf einen klassischen Aufbau, weil sie der Meinung sind, dass auch der erfolgreichste Amateur bei den Profis wieder bei null startet. Deshalb haben sie in ihren ersten drei Profikämpfen auch Gegner weit unter ihrem Niveau geboxt. Am Sonnabend wollen beide aber das nächste Level in Angriff nehmen. Artems Gegner Milos Janjanin (24) aus Bosnien hat immerhin elf seiner 23 Kämpfe gewonnen, zehn davon vorzeitig. Roberts spanischer Kontrahent Ruben Garcia (33) konnte bislang mehr Kämpfe gewinnen, als er verlor.

„Wir wollen uns systematisch aufbauen“

Echte Prüfsteine sind zwar beide nicht, wohl aber Gegner, gegen die man sich beweisen kann. „Wir wollen uns systematisch aufbauen, aber nichts überstürzen. Wir müssen unsere Namen nun langsam im Profiboxen bekannt machen. Warum sollen wir riskieren, was nicht riskiert werden muss?“, fragt Artem. Auch wenn viele Fans wissen wollen, wann er denn nun auch bei den Profis um die WM kämpfe, gelte es, geduldig zu bleiben. „Wir haben keine Eile. Das große Geld spielt für uns auch keine Rolle, weil wir als Kinder gelernt haben, mit weniger zurechtzukommen, als man eigentlich zum Leben braucht“, sagt Robert.

Eine deutsche Meisterschaft zum Jahresende, das ist ihr nächstes Ziel, 2019 dann vielleicht ein kontinentaler Titel. Schon das dürfte schwer genug werden. Wer um die Klasse der Konkurrenz in ihren Gewichtslimits weiß, die sich im Profiboxen tummelt und auch bei der Amateur-WM im vergangenen Jahr zeigte, für die Robert nicht einmal qualifiziert war, der darf ihre Träume von gemeinsamen WM-Kämpfen in Las Vegas getrost als vermessen betrachten. Doch Robert und Artem Harutyunyan werden nicht aufgeben, beharrlich an der Erfüllung ihrer Träume zu arbeiten. „Als wir vor einigen Jahren gesagt haben, dass wir in Rio eine Medaille holen wollen, wurden wir ausgelacht“, sagt Artem. „Wir sind unseren Weg gegangen und haben es geschafft. Jetzt kämpfen wir für das nächste Ziel.“ Es ist genau das Leben, das sie leben wollen. Nachhaltig, nicht schnell.