Der gebürtige Armenier hat in Hamburg ein Heimspiel. Mit seiner bewegten Vita als Flüchtling will der 27-Jährige motivieren.
Manchmal braucht es keine Worte, um eine Geschichte zu verstehen. Es genügt ein Blick in Gesichter, um den Moment einzufangen, der einem Leben eine neue Wendung gibt. Am 21. August 2016 stand Artem Harutyunyan im Pavillon 6 des Olympiakomplexes Riocentro auf dem Podium, das den Medaillengewinnern vorbehalten ist. Um seinen Hals hing das Band mit der Plakette, die ihn als Bronzegewinner im Halbweltergewicht (Klasse bis 64 kg) des olympischen Boxturniers von Rio de Janeiro kennzeichnete. Harutyunyan strahlte schon, als er die Halle zur Siegerehrung betrat, er strahlte noch lange, nachdem die Zeremonie beendet war, und es war ein so ehrliches Strahlen, wie es nur Menschen gelingt, die das tiefe Wohlgefühl der inneren Zufriedenheit spüren.
Ein Jahr später ist Harutyunyan bei den am Freitag beginnenden Weltmeisterschaften im olympischen Boxen nicht nur der einzige Starter aus einem Hamburger Verein, sondern vom Deutschen Boxsport-Verband (DBV) sogar zum WM-Botschafter ernannt worden. Wie ein kleines Märchen mutet das alles an. Denn die Geschichte des 27-Jährigen bietet viel mehr als den Gewinn einer Bronzemedaille oder eine WM-Teilnahme. Artem Harutyunyan steht beispielhaft für das, was das stets mit dem Ruch des anstößigen Milieus kämpfende Boxen in Deutschland gern sein will: ein Sport, der Menschen aus sozial schwächer gestellten Schichten eine Chance zum Aufstieg geben und mit seiner Anziehungskraft auf junge Menschen mit Migrationshintergrund ein integrativer Faktor sein kann.
Sie wollten es aus eigener Kraft schaffen
Als Kleinkinder waren Artem und sein ein Jahr älterer Bruder Robert mit ihren Eltern aus Armenien nach Hamburg geflohen. In der Heimat tobte der Konflikt mit dem Nachbarstaat Aserbaidschan um die Region Bergkarabach, und so schien es den Eltern sicherer, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Als Asylbewerber lebten sie in Flüchtlingsunterkünften. „Wir hatten wirklich wenig, aber mein Vater war zu stolz, Geld vom deutschen Staat anzunehmen. Er wollte, dass wir es aus eigener Kraft schaffen“, sagt Artem.
Diese Einstellung war es, die den Grundstein legte für den Ehrgeiz, mit dem die Brüder sich früh dem Sport verschrieben. Weil der Vater in der Sowjetarmee als Karatetrainer gearbeitet hatte, begannen sie als Sechsjährige mit Taekwondo, fünf Jahre später wechselten sie in die Boxabteilung des SV Lurup und später dann zum TH Eilbeck, der bis heute ihr Heimatverein geblieben ist. „Schon kurz nachdem ich mit dem Boxen begonnen hatte, habe ich gespürt, dass es das ist, was ich wollte“, sagt Artem, „der Sport hat mich sofort fasziniert.“
Vom gleichen Schlag wie die Klitschko-Brüder
Wer in Deutschland an boxende Brüder denkt, der hat das Bild der Klitschkos vor Augen. Vitali (46) und Wladimir (41), inzwischen beide vom aktiven Sport zurückgetreten, waren Schwergewichtsweltmeister, vielmehr aber waren sie die besten Botschafter für ihren Sport, weil sie sich eloquent auszudrücken verstanden und mit ihrem respektvollen Umgang mit Konkurrenten und ihrem sozialen Engagement als Vorbilder weit über die Seile des Boxrings hinaus wirkten. Die Harutyunyan-Brüder, die seit 2007 deutsche Staatsbürger sind, sind Menschen vom gleichen Schlag. Auch sie versprachen ihrer Mutter, niemals gegeneinander zu kämpfen. Auch sie sind redegewandte, reflektierte, faire, an politischen Themen interessierte junge Männer, die sich über mehr Dinge Gedanken machen als über den nächsten Gegner im Ring.
Vor allem aber sind sie eine Einheit, in der der Erfolg des einen ohne den anderen nicht möglich wäre. Robert, der im Leichtgewicht (Klasse bis 60 kg) startet, hat sich in den vergangenen Monaten der Karriere des Bruders untergeordnet. 2010 waren sie zum Olympiastützpunkt nach Schwerin gezogen. Ihr Traum war immer gewesen, gemeinsam bei Olympischen Spielen anzutreten. Dafür hatten sie ihre Jugend geopfert. Sie hatten in Schwerin eine Wohngemeinschaft gegründet, in der die Aufgaben klar verteilt waren. Robert wusch und putzte, Artem war der Chefkoch, der sich aus dem Internet Rezepte für sportlergerechte Ernährung heraussuchte. Mit der Gründung ihres eigenen Boxlabels HB-Boxing (HB für Harutyunyan-Brüder) schoben sie zudem ihre Vermarktung an, um sich komplett auf den Sport konzentrieren zu können. Sie waren Selfmade-Athleten, die es ohne externe finanzielle Fördermittel in die deutsche Nationalmannschaft schafften.
Traum vom gemeinsamen Olympia-Start platzte
Der Traum vom gemeinsamen Rio-Start platzte, als der Weltverband Aiba das Qualifikationsturnier nach Aserbaidschan vergab. Artem war als Weltmeister der Aiba-Profisparte APB direkt für die Sommerspiele qualifiziert, Robert jedoch hätte in Baku um das Ticket kämpfen müssen. Als gebürtiger Armenier im Feindesland anzutreten erschien ihm und dem deutschen Verband zu risikoreich, also sagte man die Reise ab. Der Konflikt, der die Brüder einst nach Hamburg gebracht hatte, hatte sie wieder eingeholt.
Doch anstatt zu hadern, konzentrierte sich Robert darauf, seinen Bruder auf dem Weg zur Medaille mit allem zu unterstützen, was er geben konnte. Er war als Trainingspartner in Rio dabei. Als Nichtnominierter durfte er nicht im olympischen Dorf wohnen, sodass die Brüder nachts getrennt waren. Jeden Morgen nach dem Aufwachen schrieb Artem eine Nachricht, dann machte sich Robert sofort auf den Weg. Und wenn Artem kämpfte, war es eine Freude, Robert auf der Tribüne zu beobachten, wie er jeden Schlag nachempfand, wie er sich auf seinem Schalensitz stehend bewegte, als stünde er selbst im Ring. Das Band, das sie aneinanderkettet, war niemals deutlicher zu spüren als in jenen Tagen von Rio.
Harutyunyan sicherte die Olympia-Förderung
Am gestrigen Mittwoch stand Artem Harutyunyan in der Leichtathletikhalle an der Krochmannstraße. Die schmucke Arena ist als Trainingszentrum für die 279 Athleten eingerichtet worden, die bis zum 2. September bei den Weltmeisterschaften in der benachbarten Sporthalle Hamburg um Medaillen kämpfen. Die zehn deutschen Teilnehmer stellten sich den Medien zum Gespräch, und Harutyunyan war – natürlich – der Mann im Mittelpunkt.
Diesen Status hat er sich verdient, weil er in Rio die einzige Boxmedaille für Deutschland erkämpfte und damit die Förderung für den aktuellen Olympiazyklus bis zu den Spielen 2020 in Japans Hauptstadt Tokio sicherte. Der DBV hatte in der Zielvereinbarung mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) eine Medaille festgeschrieben. Die fünf weiteren deutschen Kämpfer waren bereits ausgeschieden, als Harutyunyan um Edelmetall kämpfte. Er hielt diesem Druck stand. „Diese Leistung kann man gar nicht hoch genug würdigen. Wir sind Artem zutiefst zu Dank verpflichtet. Deshalb war es klar, dass wir ihn als Zugpferd für die WM einspannen würden“, sagt DBV-Präsident Jürgen Kyas. Das ZDF will Harutyunyans Auftaktkampf, der am Freitag oder Sonntag stattfinden soll, live übertragen.
Bundestrainer Timm stellt den Kader vor
Bruder Robert ist stets an Artems Seite
Sein Bruder Robert jedoch hat die Qualifikation für die WM nicht geschafft, anders als Artem wurde er vom DBV nicht gesetzt. Ihm bleibt wieder nur die Rolle im Schatten des Bruders. Als der Jüngere am vergangenen Sonnabend beim HSV-Heimspiel gegen Augsburg in der Halbzeitpause in einem Interview Werbung für die WM machte, stand der Ältere neben ihm. Und auch wenn ihm keine Frage gestellt wurde, war zu spüren, warum er dort stehen musste: weil zum Erfolg des einen unteilbar auch der andere gehört. Das ist ihr Selbstverständnis, davon werden sie nicht abrücken. „Wenn es Artems Karriere hilft, bin ich bereit, dafür zurückzustecken. Umgekehrt würde er es aber genauso tun. Klar ist, dass wir unseren Weg gemeinsam weitergehen werden“, sagt Robert.
Wohin dieser Weg sie führt, werden die kommenden Monate zeigen. Ihre Schweriner Wohngemeinschaft haben sie nach Olympia mit dem Rückzug nach Hamburg aufgegeben, mittlerweile leben sie mit ihren Verlobten zusammen, Artem mit Carina, der Tochter seines Heimtrainers Artur Grigorian, in Wandsbek. Er hatte bereits nach Rio Angebote aus dem Profilager geprüft, sie aber zunächst verworfen, um die Heim-WM noch boxen zu können. Das Problem ist, dass seine Gewichtsklasse in Deutschland kaum Beachtung findet und der Wechsel ins Profilager hierzulande finanziell wenig lukrativ erscheint. Den Schritt in die USA zu gehen wäre eine Möglichkeit, allerdings scheint dort niemand an Roberts Diensten interessiert zu sein. Da eine Trennung nicht zur Debatte steht und der Bruder auch noch nicht bereit ist, die Trainerlaufbahn einzuschlagen, werden sie nach der WM in Ruhe die Optionen prüfen, die ihnen für die nächsten Jahre bleiben.
Sportsenator Grote setzt auf Harutyunyan
Andy Grote, Hamburgs Sportsenator, hofft sehr darauf, dass Artem als Vorbild für das Hamburger Boxen erhalten bleibt. „Artem kann mit seinem Auftreten und seinen Erfolgen viel dafür tun, dem Boxen in Hamburg eine Entwicklungsperspektive zu geben. Ich würde mir wünschen, dass er den jetzt eingeschlagenen Weg weitergeht und 2020 in Tokio einen weiteren Anlauf auf olympisches Gold nimmt“, sagt er. Das allerdings wäre, nachdem sich die Aiba Anfang 2016 für Profis geöffnet hatte, auch bei einem Wechsel ins Berufsboxen möglich.
Die Weltmeisterschaft ist für Artem Harutyunyan die große Chance, seine Geschichte fortzuschreiben. Wer es verpasst, die ihm gegebene Bühne mit immer neuen Erfolgen zu bespielen, der verschwindet schnell aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nun ist es nicht so, dass Artem dieses Rampenlicht braucht für sein persönliches Glück, im Gegenteil. Robert und er sind Familienmenschen, die Empfänge gern auch mal vorzeitig verlassen, weil sie ihren Eltern versprochen haben, zum Essen nach Hause in die Sternschanze zu kommen. „Unsere Eltern haben uns mit ihrer Erziehung all das ermöglicht, was wir erreicht haben, deshalb werden wir sie immer ehren“, sagt Artem, der seine Olympiamedaille in die Obhut der Eltern gegeben hat.
Dennoch hat er die öffentliche Aufmerksamkeit schätzen gelernt nach Rio, er wurde in Talkshows eingeladen und auf diverse Society-Events, er empfing aus den Händen des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck sogar das Silberne Lorbeerblatt. „Ich habe viele verschiedene Menschen kennengelernt und war fasziniert davon, wie viele meine Kämpfe gesehen hatten. Nach Olympia habe ich gemerkt, welche Strahlkraft mein Erfolg hatte“, sagt er. Diese Strahlkraft will er weiterhin nutzen, aber nicht vorrangig für sein eigenes Fortkommen. „Ich will mit meiner Geschichte zeigen, dass man alles erreichen kann, was man sich vornimmt, wenn man nur fest daran glaubt und hart dafür arbeitet“, sagt er.
In Hamburg zu boxen ist Motivation pur
Dass dafür Erfolge die Währung sind, in der abgerechnet wird, weiß er. Seit Rio hat er – wegen einer Erholungspause bis Jahresende und anschließenden Verletzungen – nur einen Wettkampf bestritten, vor einigen Wochen in Tschechien besiegte er einen Inder, die Einschätzung seiner Leistung variiert je nach Betrachter. Bundestrainer Michael Timm glaubt, dass „Artem nichts von seiner Abgezocktheit eingebüßt hat. Er hat in vielen Trainingskämpfen gegen die besten Leute aus anderen Nationen gut ausgesehen. Und es ist Motivation pur für ihn, dass er in Hamburg vor seinen Fans boxen kann.“
Tatsächlich liebt Artem Harutyunyan Heimspiele, in der Wilhelmsburger Inselparkhalle holte er sich 2015 hintereinander das Olympiaticket und den APB-WM-Titel. „Für mich ist es eine große Ehre, dass ich vor meinen Leuten eine WM boxen darf“, sagt er. Seine Überzeugung ist, „dass mir die lange Pause gutgetan hat. Ich habe wieder richtig Lust aufs Boxen und bin motivierter als jemals zuvor.“ Das dürfte nicht die schlechteste Voraussetzung sein, um der Geschichte seines Lebens ein neues Kapitel anzufügen.