Hamburg. Vor 25 Jahren zog die Box-WM Michalczewski gegen Rocchigiani 25.000 Fans ans Millerntor. Dubioses Urteil: „Technisches Unentschieden“.

Das Sportjahr 1996 hatte es in sich: erst die Fußball-EM in England mit dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft, dann die Sommerspiele in Atlanta mit Rang drei im Medaillenspiegel für die deutsche Olympia-Mannschaft hinter Gastgeber USA und Russland. Und inmitten dieser Großereignisse wagten die deutschen Berufsboxer den größten Schlag, seit Karl Mildenberger 30 Jahre zuvor gegen Muhammad Ali vor fast 40.000 Menschen im Frankfurter Waldstadion um die WM im Schwergewicht gekämpft hatte.

Das erste 96er-Comeback des Freiluft-Faustkampfs war ein Flop: Axel Schulz, „der weiche Riese“, hatte an einem nasskalten Juni-Abend in Dortmund seine dritte WM-Chance im Verband IBF in den Wind geschlagen – Schulz unterlag Michael Moorer (USA) nach Punkten. 20.000 Fans hatten das Westfalenstadion nur etwa zur Hälfte gefüllt. In Hamburg sollte alles besser, spektakulärer werden.

Box-WM: Nacht der Skandale in Hamburg

Doch die Box-WM im Halbschwergewicht der World Boxing Organization (WBO) zwischen Dariusz Michalczewski und Graciano Rocchigiani heute vor genau 25 Jahren geriet zur Nacht der Skandale. Und sie endete mit einem Ergebnis, das in die Annalen einging: Technisches Unentschieden. Ein Urteil, das die WBO für manche zur „Witz-Box-Organisation“ machen sollte.

Es ist heiß an diesem Sonnabend, 10. August 1996. Etwa 30 Grad Celsius – auf dem Heiligengeistfeld ist der Rummel nicht nur wegen des Sommerdoms gewaltig. Das Wilhelm-Koch-Stadion (heute Millerntor-Stadion) ist nach reichlich Ballyhoo mit 25.000 Besuchern rund um den überdachten Box-Ring am Mittelkreis des abgedeckten Rasens voll besetzt.

„Du bist für mich ein kleiner Wurm"

Die Rollen scheinen klar: Hier der Titelverteidiger und Wahl-Hamburger Michalczewski (28), Deutsch-Pole, Kampfname „Tiger“ – dort der Herausforderer und Außenseiter Rocchigiani (32), Italo-Berliner, Kampfname „Rocky“, der Bad Boy des deutschen Boxens. Der frühere Champ hat sich im Jahr zuvor gegen den IBF-Halbschwergewichtsweltmeister Henry Maske zurück ins Rampenlicht gekämpft: Das erste WM-Duell in Dortmund verlor „Rocky“ gegen den „Gentleman“ sehr umstritten nach Punkten, die Revanche gegen den Begründer des neuen Box-Booms in München dann klar.

„Nach Punkten kann man hier nicht gewinnen, das steht schon mal fest“, tut Rocchigiani vor dem Kiez-Kampf kund – und schlägt sogleich verbal um sich. „Du bist für mich ein kleiner Wurm, Peter Kohl“, sagt er in Richtung des Hamburger Promoters und Michalczewski-Managers Klaus-Peter Kohl. Der garantiert indes auch „Rocky“ eine Millionen-Börse und lässt sich mit seiner Universum Box-Promotion die WM am Millerntor mithilfe des Pay-TV-Senders Premiere (heute Sky) sechs Millionen D-Mark kosten.

Rocchigiani bringt Michal­czewski in die Bredouille

Das Festzelt „Beim Österreicher“ ist als VIP-Bereich für 2500 mehr oder minder wichtige Menschen gebucht, eine geschlossene Gesellschaft mit Gelegenheit für Milieu-Studien: Sonnenbrillen-Träger Udo Lindenberg, Berufs-Blondine Jenny Elvers, die Schauspieler Hansjörg Felmy und Heiner Lauterbach, „Tagesschau“-Sprecher Jan Hofer, auch Star-Anwalt Gerhard Strate – alle da. Am Ring sitzen Sprint-Star Katrin Krabbe sowie die Profi-Blödler Jürgen von der Lippe und Karl Dall ganz vorn, sogar Wimbledon-Sieger Michael Stich rückt auf St. Pauli an die Seile statt ans Netz vor.

Lasershow, Feuerwerk – gegen 22.30 Uhr heißt es endlich „Ring frei!“ Zur Überraschung vieler dominiert Rechtsausleger Rocchigiani und bringt Michal­czewski mit seinen Aufwärtshaken mehrmals in die Bredouille. Der „Tiger“, als gewandter Haudrauf bekannt, wirkt bei seiner bis dato härtesten WM-Prüfung konsterniert. Auch weil die Mehrheit des Publikums nicht ihn, den Dauerkarten-Inhaber des FC St. Pauli, sondern den Straßenkämpfer aus Berlin anfeuert.

„Tiger“ sackt zusammen

In der siebten Runde die Schlüsselszene: US-Ringrichter Joseph G. O’Neill will die clinchenden Boxer trennen. Der Drei-Zentner-Mann hat „Break, break!“ gerufen, das Kommando aber noch nicht vollzogen, als Rocchigiani schon einen linken Haken angesetzt hat, der den Weltmeister auf dem rechten Wangenknochen und am Ohr trifft. Mit Verzögerung taumelt der „Tiger“ in die Seile und sackt zu Boden. „Du hast gefoult!“, brüllt O’Neill Herausforderer „Rocky“ an, erkundigt sich sogleich nach Michalczewskis Zustand, zählt den „Tiger“ dann aber bis „acht“ an und konsultiert danach den Ringarzt, der den WBO-Champion schließlich nach drei Minuten aus dem Kampf nimmt.

„Rocky“ hat sich beim Anzählen bereits als Sieger gewähnt, ist auf die Seile gestiegen und durch den Ring gehüpft. Bis das Gerücht einer Disqualifikation die Runde macht. Tumultartige Szenen in und am Ring folgen. Oder hat der Titelverteidiger den Schwächeanfall vorgetäuscht? Zusätzliche Verwirrung stiftet der Ringsprecher: „Bis zur siebten Runde war es punktemäßig ausgeglichen!“, ruft er. Tatsächlich führt Rocchigiani nach der sechsten Runde.

WBO-Präsident: „Wir disqualifizieren nie“

„Wir disqualifizieren nie“, sagt WBO-Präsident Francisco Valcarcel aus Puerto Rico, der sich mit dem Kampfgericht auf die Fernsehbilder von Premiere stützt – gleichfalls eine Premiere. „Auf den Zetteln der Punktrichter lag ,Rocky’ vorn, Dariusz konnte nicht weiterboxen - deshalb ,Technisches Unentschieden’“, verkündet Valcarcel, von Beruf Anwalt. Erstaunen, Empörung und Entsetzen machen sich breit. Nach 15 langen Minuten bleibt Michalczewski Weltmeister.

Die Frage der Nacht: Wollte die WBO nicht disqualifizieren, weil sie im ausverkauften Stadion Tumulte der überraschend vielen „Rocky“-Anhänger befürchtete? Der Italo-Berliner greift anschließend auch O’Neill an: „Der Ringrichter war nicht imstande, ein Urteil zu fällen. Da können wir ja gleich einen Straßenfight machen.“

Michalczewski den Tränen nahe

Und Michalczewski? Als er sich erholt hat, nimmt er Rocchigiani mit unter den Lorbeerkranz. „Ich ziehe den Hut vor Dariusz. Er ist eine ehrliche Haut, aber ich bin von seinem Umfeld betrogen worden“, poltert „Rocky“ im Pressezelt. „Ihr seid Betrüger … Schweine seid ihr!“, wütet Rocchigiani, sekundiert von Ehefrau und Managerin Christine. Dem sonst so redseligen Macher Kohl verschlägt es zeitweise die Sprache. Kohls Hoffnung: „Es gibt nur eines, das ist ein Rematch.“ Noch in der Nacht erklärt sich Michalczewski dazu bereit: „Ich fühle mich nicht als Sieger“, sagt er den Tränen nahe, ehe er kurz nach zwei Uhr mit Gefolge das Dom-Gelände verlässt. Die Box-Welt, sie gleicht in dieser Nacht einem Rummelplatz.

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Nachschlag 1: ,Das Urteil „Technisches Unentschieden“ wurde kurz nach der Skandal-WM von der WBO am grünen Tisch in einen Disqualifikationssieg Michalczewskis umgewandelt, und Fritz Sdunek löste US-Coach Chuck Talhami als Cheftrainer ab.

Rückkampf vier Jahre später in Hannover

Nachschlag 2: Der Rückkampf folgte erst knapp vier Jahre später in Hannover. „Rocky“ bezeichnete Michalczewski zuvor als „dummen Polen“. Doch „Darek“, wie der gelernte Tischler und Polsterer aus Gdansk (Danzig) von den Fans aus seiner Heimatstadt gerufen wurde, vermöbelte „Rocky“ im April 2000 derart heftig, dass dieser nach der neunten Runde aufgab.

Nachschlag 3: Dariusz Michalczewski lebt seit 2005 wieder in Polen und ist von Danzig aus als Unternehmer tätig. Er war von 1994 bis zu seiner ersten von nur zwei Niederlagen als Profi 2003 unbesiegter WBO-Weltmeister im Halbschwergewicht und vereinte 1997 nach seinem größten Sieg über den WBA-/IBF-Champion und Maske-Bezwinger Virgil Hill (USA) kurzzeitig sogar drei WM-Titel.

Box-Legende Rocchigiani starb bei Unfall

Nachschlag 4: Graciano Rocchigiani starb am 1. Oktober 2018 mit nur 54 Jahren unter tragischen Umständen – er wurde auf Sizilien von einem Auto überfahren.