Essen. Deutschland erlebt mit der EM 2024 ein Heimturnier. Zwischen Hamburg, Berlin, NRW und Thüringen: Wie steht es um die Stimmung im Land?
Mit einem BVB-Trikot in die Arena auf Schalke? Arm in Arm mit dem Fan der gegnerischen Mannschaft? Oben del Piero unten Schottenrock? Ja, das geht. Sogar sehr gut. Willkommen bei der Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Die erste Woche ist rum, das Turnier hat Fahrt aufgenommen, die Fans geben Vollgas und sogar die Deutsche Bahn ist manchmal pünktlich. Gelegenheit für eine kleine Deutschlandreise – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, immer der Stimmung hinterher.
Hamburg
„Na, hier ist ja was los“, sagt die alte Dame, die eben noch am Jungfernstieg einkaufen ging – und sich nur einen Augenblick später unverhofft mitten in Kroatien wiederfindet. Jubelgesänge, rhythmisches Klatschen und rote Pyrotechnik satt. Die alte Dame freut sich aber: „So was sieht man sonst ja nur im Fernsehen“, sagt sie.
Mindestens 40.000 Kroaten waren am Mittwoch in Hamburg, sagt Ante im Modric-Trikot. „Vielleicht sogar noch viel mehr“. Die gesellten sich dann zu den „mindestens 40.000 Albanern“, die ein Fan im Albanien-Trikot gezählt haben will. Ob es in Wahrheit ein paar mehr oder weniger waren, interessiert hier eigentlich keinen. Es wird zusammen gesungen, getanzt und sich auch ein wenig geneckt. Genauso war es, als eine Oranje-Welle ganz Hamburg überspült hat.
Unter die vielen bunten, stimmungsvollen Bilder mischen sich aber auch nationalistische und rassistische Töne und Gesten. Als Albanien gegen Kroatien spielt, singen viele, viel zu viele Fans im Stadion: „Tötet die Serben!“ Bei Auftaktspiel der serbischen Nationalmannschaft wiederum bekommt man schon beim Fanmarsch Fangesänge für Wladimir Putin zu hören, der russische Angriffskrieg wird unterstützt.
Gelsenkirchen
Unzählige Fußballfans stehen vor dem ersten Spiel in der Schalke-Arena vor der Bahn: englische, serbische, deutsche, internationale. Es tut sich: nichts. Dafür wird diskutiert, auch über das Gelsenkirchener Wort der Woche: Shithole – Drecksloch. Wenig hat die Stadt unternommen, um sich herauszuputzen, die Fanzone zur Trabrennbahn am Rande der Stadt abgeschoben, das Public Viewing in den Nordsternpark – ebenso weit entfernt. In der Innenstadt, Tor zur City: graue Tristesse, nur bekannt geworden durch eine Schlägerei zwischen Serben und Engländern. „Gelsenkörken“, wiederholen die englischen Fans immerzu, als sich die Bahn endlich in Bewegung setzt.
Beim zweiten Versuch läuft es besser. Bei der Partie Spanien gegen Italien bleibt das Chaos aus, die Stimmung ist gut. Der Spieltagsschal war ruckzuck ausverkauft.
Dortmund
Am 15. Juni ist Dortmund rot. 50.000 Albaner sind gegen Italien angereist. Ihre Trikots prägen das Stadtbild, ihre Gesänge sorgen für eine stimmungsvolle Atmosphäre. Ihr Rot dominiert auch das Stadion. Als dann noch Nedim Bajrami nach 22 Sekunden den krassen Außenseiter in Führung schießt, entlädt sich die ganze Vorfreude in einer Jubel-Explosion.
Zu einem Heimspiel macht die
gegen Georgien. So laut wird es selbst bei manchen BVB-Spielen nicht. Der Marsch durch die Stadt – gigantisch. Und das trotz Unwetter und abgesagter Public Viewings.
Tief im Westen ist sie besonders zu spüren: die Migrationsgeschichte der deutschen Gesellschaft. Sie bereichert dieses Turnier, weil es für viele eine doppelte Heim-EM ist. Vor dem Stadion hört man immer wieder einen Sprachenmix. Hier hat Heimat einen Plural. Natürlich gibt es auch vereinzelt negative Ausprägungen wie türkische Fans, die beim Marsch zum Stadion den Gruß der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ zeigen oder Albaner, mit Flaggen mit den Umrissen Großalbaniens. Doch die beherrschenden Bilder sind andere, fröhliche.
Düsseldorf
Hunderte ukrainische Fans ziehen zum Stadion, um dort das Spiel gegen die Slowakei zu sehen. Mittlerweile gehören immer mehr Fahnen in den Fenstern zum Stadtbild. Ein Junge reicht den Fans Bier aus einem Fenster. Er ist ihr Held des Tages und wird mit viel Jubel bedacht. Rund um die Stadien sind die Volunteers die freundlichsten Menschen. Manchmal bekommen sie etwas zurück: Applaus respektive kleine Sprechchöre für ihre Hilfe.
Köln
Ein Schotte stolpert mit drei Dosenbier aus einem Einkaufsmarkt. Mitten im Durchgang des Hauptbahnhofs steht die große Leinwand, darauf flimmert das deutsche Spiel gegen Ungarn. Die Männer im Schottenrock schauen zu, scheinen es nicht eilig zu haben. Zum Stadion schaffen es die meisten dennoch, sehen ein 1:1 gegen die Schweiz.
Frankfurt
Keine andere Stadt hat so viel für ihre Fanzone investiert. 1,4 Kilometer lang, es sind viele, viele Menschen da, 30.000 finden Platz. Im Stadion das große Rutschen auf schlechtem Rasen – Dänemark und England bekommen es schmerzhaft zu spüren.
Deutschland, Organisationsweltmeister – das war einmal. Stets bemüht, steht also bislang im Zeugnis. Vor allem das Problem der maroden Verkehrsinfrastruktur sorgt für Peinlichkeiten, die sogar in US-Meiden thematisiert werden. Immerhin: Das Wetter soll besser werden.
Stuttgart
Ein längst vergessenes Turnier-Gefühl kehrt zurück: DFB-Spiele wirken wieder wie ein Lagerfeuer, an dem sich auch Menschen versammeln, die mit Fußball nicht so viel am Hut haben.
Im Stadion ist die Atmosphäre überraschend gut für LänderspielVerhältnisse. Am lautesten ist das Stadion immer dann, wenn Major Tom vor Anpfiff gespielt wird.
München
Bei den Trikots dominiert im Stadion zwar noch die Farbe weiß, doch es ist auch sehr viel pink dazwischen. Im Straßenbild sieht man auch an Nicht-Spieltagen und -Orten überraschend viele Menschen in Trikots. Gerade die Jüngeren tragen pink.
Das Highlight sind die schottischen Fans. Sie animieren die deutschen Fans vor dem Eröffnungsspiel zur Verbrüderung. Zwei Nationen, die auf Gezapftes stehen – sie müssen Freunde werden. Sie erwecken diese EM zum Leben. Sie würden wohl auch ihre Bierbestellung trällern, wenn sie wüssten, dass man sie dann besser verstehen würde.
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2006 läutete Oliver Neuvilles Treffer gegen Polen das Sommermärchen ein: Erst bebte das Dortmunder Stadion, dann das ganze Land. Die erstmals entdeckte Leichtigkeit der Deutschen steckte die Gäste an, die WM wurde ein rauschendes Fest der Weltoffenheit. Diesmal scheint es andersrum: Die gute Laune der Gäste schwappt auf die durch viele Krisen – auch ihrer Fußballer – geprägten Deutschen über. Schwarz-rot-gold bekommt seine Leichtigkeit zurück.
Blankenhain
In Thüringen wird in zahlreichen Orten Public Viewing angeboten – aber es gibt offiziell nur eine Fanmeile: im 6700-Einwohner-Ort, dort, wo die englische Auswahl um Superstar Harry Kane ihr EM-Quartier aufgeschlagen hat. Das dortige Public Viewing verbucht Bürgermeister Jens Kramer als Erfolg. Und das Bier kostet nur 3,50 Euro. Für die Bezahlung müssen die Euros zuvor in Blankenhain-Dollar umgetauscht werden, die inzwischen schon Kult-Status genießen.
Leipzig
Am Augustusplatz, direkt zwischen Gewandhaus und Oper befindet sich die Fan-Zone der einzigen ostdeutschen EM-Austragungs-Stadt. 15.000 Menschen können alle Spiele verfolgen. Eintritt kostenlos – das kommt an.
Berlin
Ein Sommermärchen wie bei der WM 2006 lässt sich nicht wiederholen. Doch wer in einem Pulk aus feiernden Spaniern und Kroaten vor dem Olympiastadion steht, sich mit den Türken auf dem Kurfürstendamm mitfreut und „allez les bleus“ der Franzosen vor dem Reichstag erlebt, lässt sich unweigerlich einfangen von guter EM-Laune.
Schmelztiegel aller Emotionalität ist die Mutter aller Fan Zonen vor dem Brandenburger Tor. Die Stimmung im Epizentrum der EM-Finalstadt ist prächtig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Stimmung abnimmt, je weiter man sich von den Hotspots entfernt.
Rudelgucken schien so oll und abgemeldet wie das Wort selbst. Doch da sind sie wieder: vor allem junge Menschen, die geschminkt Fußball schauen, überteuertes Bier trinken und sich trotzdem freuen. Die Corona-Generation holt sich den Spaß zurück und feiert die EM, wie es ihr gefällt. Dass sie sich dabei permanent selbst für die Sozialen Medien filmt oder fotografiert – es ist der Zeitgeist. Der gehört dazu. Das weiß auch die alte Dame aus Hamburg. Ihr Wunsch fürs Viertelfinale in ihrer Stadt: „Die Schotten wären toll.“ Na klar, wer sonst?