Herzogenaurach. Vor dem EM-Auftakt gegen Schottland stellen sich noch viele Fragen. Die jüngsten Testspiele sorgten für mehr Zweifel als Zuversicht.
Julian Nagelsmann genoss im Juni 2023 ein Bergtouren mit seinem Mountainbike, als die deutsche Nationalmannschaft mal wieder in eine sportliche Krise schlitterte. Bei den Freundschaftsspielen zum Saisonausklang gegen die Ukraine, Polen und Kolumbien wollte Bundestrainer Hansi Flick ein wenig herumexperimentieren, mit welchen Spielern er in die Vorbereitung zur Heim-Europameisterschaft startet. Nach einem Last-minute-Remis gegen die Ukrainer und zwei Niederlagen gegen Polen und Kolumbien war klar: Spieler wie Marius Wolf, Thilo Kehrer oder Jonas Hofmann waren es nicht. Und zwei Monate später nach einem peinlichen 1:4 gegen Japan war ebenso klar, dass auch Flick die EM 2024 nicht mehr als Bundestrainer erleben wird.
Am Freitagabend gegen Schottland (21 Uhr/ZDF), zwölf Monate nach dem dreifachen Testspieldesaster, geht sie nun also endlich los, die Heim-EM in Deutschland. Nagelsmann fährt nun nicht mehr durch die Berge, sondern führt die Nationalmannschaft durch sein erstes großes Turnier, mit dem ganz Fußball-Deutschland nach den Enttäuschungen der vergangenen sechs Jahre so große Hoffnungen verbindet. Die Hoffnung, endlich wieder eine erfolgreiche Nationalmannschaft zu erleben, die den Fans Freude bereitet. Die große Frage, die sich vor dem EM-Auftakt allerdings stellt und die aktuell noch schwer zu beantworten ist, lautet: Wie gut ist diese Mannschaft wirklich?
Nagelsmann hat in seinen ersten neun Monaten als Bundestrainer bereits alle Ausschläge erlebt, die man eigentlich nicht erleben will. Von der Hoffnung machenden US-Tour zum Auftakt im Oktober, den Tiefschlägen im November gegen die Türkei und in Österreich bis hin zum Euphorieauslöser im März mit den Siegen in Frankreich und gegen die Niederlande. Und schließlich zum Abschluss der Vorbereitung zwei Testspiele gegen die Ukraine und Griechenland, die mehr Zweifel als Zuversicht aufkommen ließen so kurz vor dem Turnierstart am Freitag in München.
Julian Nagelsmann hat alle Ausschläge erlebt
Nagelsmann hat sich schon vor Monaten auf seine EM-Startelf festgelegt. Die 0:2-Niederlage in Österreich war der entscheidende Moment, den Nagelsmann gebraucht hatte, um sein Team zu finden. Er sortierte erfahrene Charaktere wie Julian Brandt, Mats Hummels, Leon Goretzka oder Niklas Süle aus und setzte bei der Zusammenstellung des EM-Kaders vor allem auf die Erfolgsmannschaften aus Leverkusen und Stuttgart. Der VfB hatte vor genau einem Jahr noch in der Relegation gegen den HSV gespielt. Nun sind Spieler wie Chris Führich, Deniz Undav oder Maximilian Mittelstädt entscheidende Bausteine des Projekts EM-Titel.
„Wir haben eine stark veränderte Mannschaft und einen ganz anderen Kern“, sagt Niclas Füllkrug, der vor einem Jahr noch als Stürmer Nummer eins galt, nun aber hinter Kai Havertz die Rolle des Herausforderers eingenommen hat. Die klare Rollenverteilung und die entsprechenden Rollengespräche waren für Nagelsmann ein zentrales EM-Element. Mit Rückkehrer Toni Kroos als Chef des Spiels, mit Torhüter Manuel Neuer als gestärkter Nummer eins, mit Robert Andrich als „Worker“, den Künstlern Florian Wirtz und Jamal Musiala als Herzstück der Offensive, Kapitän Ilkay Gündogan als Sortierer in der Mittelfeldzentrale oder den Zweikämpfern Antonio Rüdiger und Jonathan Tah im Abwehrzentrum.
Vorrunden-Aus wäre auch das Aus für Nagelsmann
Die jüngsten Testspiele offenbarten aber noch Probleme, die Nagelsmann nun abstellen muss: Die Aussetzer von Neuer, die Müdigkeit des überspielten Gündogan oder die Konteranfälligkeit durch die hochstehenden Außenverteidiger Joshua Kimmich und Mittelstädt. Fehler wie in der ersten Hälfte gegen Griechenland wird sich die DFB-Elf in den Vorrundenspielen gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz nicht erlauben können. Ansonsten droht ein erneutes Vorrunden-Aus, das gleichbedeutend wäre mit dem Ende von Nagelsmann beim DFB.
Doch das Vertrauen in den jungen Bundestrainer ist groß. Von Sportdirektor Rudi Völler (64) erfährt Nagelsmann den absoluten Rückhalt. „Julian kann die Spieler anstecken und mitreißen. Er brennt für die Nationalmannschaft und für den Erfolg“, sagte der frühere Teamchef der DFB-Auswahl und Weltmeister von 1990 über seinen 28 Jahre jüngeren Kollegen.
Toni Kroos entscheidet, wie gut Deutschland spielt
Völler und Nagelsmann sind die verantwortlichen Köpfe der Nationalmannschaft. Ihr gemeinsamer Weg beim DFB ist auch vertraglich bis zur Weltmeisterschaft 2026 verankert. Die beiden wissen, was die aktuelle DFB-Elf kann. Sie wissen aber auch, was sie nicht kann. Oder wie es Toni Kroos in der vergangenen Woche sagte: „Wir sind nicht so gut, wie wir im März gemacht wurden. Aber auch nicht so schlecht, wie wir davor gemacht wurden.“
Wie gut Deutschland bei der EM performen wird, hängt maßgeblich auch an Kroos selbst. Im März 2023 wurde die deutsche Mannschaft von einer Topnation wie Belgien hergespielt – ohne Kroos. Im März 2024 dominierte Deutschland Vizeweltmeister Frankreich – mit Kroos. Nagelsmanns Mannschaft wird durch den sechsmaligen Champions-League-Gewinner besser. Für den 34-Jährigen werden es die letzten Spiele seiner Karriere. Ein EM-Titel, der ihm in seiner Trophäensammlung noch fehlt, wäre zum Abschluss fast schon ein bisschen kitschig, wie er selbst sagte.
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Träume vom Titel aber sind ausdrücklich erlaubt, wie Chefträumer Nagelsmann seinen Spielern mit auf den Weg gab. „Man sollte schon davon träumen und sich bei dem einen oder anderen Tagtraum mal vorstellen, wie es ist, im Finale zu sein oder vielleicht das Ding sogar zu gewinnen.“
Am Freitagabend wird sich zum ersten Mal zeigen, ob die Träume vom Titel realistisch sind – oder die deutschen EM-Spieler von 2024 nur als Traumtänzer in die Geschichte eingehen werden.
Die voraussichtlichen Aufstellungen
Deutschland: Neuer (FC Bayern München/38 Jahre/119 Länderspiele) - Kimmich (FC Bayern München/29/86), Rüdiger (Real Madrid/31/69), Tah (Bayer Leverkusen/28/25), Mittelstädt (VfB Stuttgart/27/4) -Andrich (Leverkusen/29/5), Kroos (Real Madrid/34/109) - Musiala (München/21/29), Gündogan (FC Barcelona/33/77), Wirtz (Leverkusen/21/18) - Havertz (FC Arsenal/25/46).
Schottland: Gunn (Norwich City/28/10) - Porteous (FC Watford/25/11), Hendry (Al-Ettifaq/29/31), Tierney (Real Sociedad/27/45) - Ralston (Celtic Glasgow/25/9), Robertson (FC Liverpool/30/71) - McGinn (Aston Villa/29/66), McTominay (Manchester United/27/49), McGregor (Celtic Glasgow/30/60), Christie (AFC Bournemouth/29/49) - Adams (FC Southampton/27/30).