Hamburg. Mehr Geschichte(n) geht nicht: Freitag treffen die Oberligaclubs Victoria und Altona 93 zum 139. Mal aufeinander. Ein Blick zurück nach vorn.
Wenn heute Abend um 19.30 Uhr das Derby in der Oberliga Hamburg zwischen dem Zehnten SC Victoria und Tabellenführer Altona 93 vor circa 2000 Fans angepfiffen und vielleicht ein neuer Saison-Zuschauerrekord vermeldet wird – alle Personen unter 18 Jahren haben freien Eintritt – werden auch Thomas Mandelkau (74) und Jassi Huremovic (56) im Stadion Hoheluft mitfiebern. „Das lasse ich mir nicht nehmen“, sagt Mandelkau, einst als defensiver Mittelfeldspieler Mitglied der Meistermannschaft Victorias in der Landesliga Hamburg (damals 3. Liga) in der Saison 1973/74. Mandelkau ist immer noch für Vicky aktiv, als Mitglied im Beirat des Vereins.
Altona gegen Victoria ist das älteste Stadtderby Deutschlands
„Dieses Duell ist Fußballtradition pur. Man sollte sie achten und ehren“, findet Huremovic. Der heutige Sportliche Leiter des Oberligisten ETSV Hamburg lief als technisch beschlagener Zehner von 1988-1992 für Altona 93 und von 2005 bis 2007 für den SC Victoria auf. Bei beiden Stationen - erst dritt- und später viertklassig – in der Oberliga Nord. Mit Altona 93 (1989) und in der letzten Partie seiner Karriere für den SC Victoria (2007) wurde Huremovic Hamburger Pokalsieger.
Mandelkau und Huremovic sind zwei Puzzleteile einer gewaltigen Historie. SC Victoria gegen Altona 93 – das ist mehr als ein Fußballspiel. Es handelt sich um nichts weniger als das älteste, in Deutschland noch gespielte Stadtderby. Zwar duellierten sich die Derby-Konkurrenten aus Karlsruhe – der Karlsruher Fußball-Verein und der Karlsruher F.C. Phönix – schon im Jahre 1896. Den Karlsruher FV gibt es sogar noch. Er kickt in der Kreisklasse B2. Phönix jedoch fusionierte 1952 mit dem VfB Mühlburg – und aus dieser Zusammenkunft entstand der heutige Zweitligist Karlsruher SC. Die ersten Aufzeichnungen zum berühmten Frankenderby 1. FC Nürnberg gegen die Spielvereinigung Greuther Fürth stammen aus dem Jahre 1904. Wobei es sich bei diesem Spiel nicht um ein Stadtderby handelt.
Altona 93 und der SC Victoria wurden von Schülern gegründet
Die Statistik der bislang 138 ausgetragenen Punktspiele zwischen dem SC Victoria und Altona 93 spricht für den AFC. 62 Altonaer Siegen stehen 53 Erfolge für die Victorianer gegenüber, 23 Partien endeten mit einem Remis. Das Torverhältnis: 314:279 für Altona. Doch beide Clubs stehen für deutlich mehr.
So wurde Altona 93, heute hauptsächlich in Ottensen und Groß-Flottbek daheim, von Schülern gegründet. Beim SC Victoria (Eppendorf, Hoheluft, Lokstedt) erfolgte die Gründung zwei Jahre später im Jahr 1895 durch Auszubildende und Schüler. In der Kaiserzeit, als Fußball längst nicht den heutigen Stellenwert besaß und teils verpönt war, waren dies durchaus mutige Taten.
Fußballhistorisch entführen die Anfänge der Clubs in Zeiten, in denen vom FC St. Pauli von 1910 und vom HSV, der in seiner heutigen Form erst 1919 entstand (die Zahl 1887 verweist auf das Gründungsdatum des ältesten Vorgängervereins SC Germania), noch gar nicht die Rede war. In der ersten gemeinsamen Saison im Jahr 1898/99 wurde Victoria in erstklassigen sogenannten A-Klasse Dritter, Altona 93 mit satten 26:0 Punkten und 79:5 Toren Erster.
1900 war der SC Victoria Mitbegründer des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Die erste deutsche Fußballmeisterschaft wurde dafür auf einem Platz von Altona 93 in Bahrenfeld ausgetragen. Am 31. Mai besiegte der VfB Leipzig den DFC Prag mit 7:2. Insgesamt holte Altona 93 15 Hamburger Meistertitel und vier Hamburger Pokalsiege. Victoria verbuchte 19 Hamburger Meisterschaften und fünf Hamburger Pokalsiege.
Bei einer Partie versank ein Altonaer Spieler in einem Loch
Gemeinsam erstklassig blieben beide Clubs bis 1921 und von 1928 bis 1947. Eine sehr spezielle Partie findet sich dabei nicht in den Punkspiel-Annalen. 1924 besiegte Altona 93 den SC Victoria auf Helgoland im Kampf um den HAPAG-Pokal mit 4:2. Namensgeber des Cups war die Reederei des Dampfers ,Kaiser‘ („Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actiengesellschaft“), mit der beide Mannschaften nach Helgoland fuhren.
Zweck der Partie: die Hamburger Bevölkerung zu Ferien auf Helgoland animieren, damit der Wiederaufbau der unter den Folgen des Ersten Weltkriegs schwer leidenden Insel im Sinne der Bewohner zügiger vorangehen konnte. Während der Begegnung soll übrigens ein Altonaer Spieler zwischenzeitlich fast in einem Loch versunken sein, so schlecht waren die Platzverhältnisse.
Stefan Effenberg fing bei Victoria an
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erstklassigkeit für Altona 93 und den SC Victoria mit der Einführung der Bundesliga im Jahr 1963 endgültig Geschichte. Große Spieler prägen den Ruf beider Clubs dafür zu allen Zeiten. Ehrenspielführer Ernst Eikhof absolvierte von 1911 bis 1930 mindestens 413 Partien für den SC Victoria, die späteren Bayern-Spieler Stefan Effenberg und Torwart Walter Junghans spielten in der Jugend des SC Victoria, Junghans sogar noch sein erstes Herrenjahr beim SCV.
Bei Altona 93 sammelte der großartige Torjäger und Stadionnamensgeber Adolf Jäger zwischen 1908 und 1924 elf Titel mit dem AFC ein. Bayerns Stürmer Eric Maxim Choupo-Mouting spielte in seiner Jugend drei Jahre für Altona, Bayer Leverkusens Verteidiger und frischgebackener Meister Jonathan Tah sogar neun Jahre.
Heute gilt Victoria als bürgerlich, Altona als linksalternativ
Doch wer auch im blau-gelben oder im schwarz-weiß-roten Trikot auflief – die Rivalität blieb. „Zum einen wegen der räumlichen Nähe“, erklärt Victorias früherer Spieler Thomas Mandelkau. „Und wegen der großen Tradition. Als wir 1973 Meister wurden, war das 3:2 bei Altona 93 auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn ein Schlüsselspiel für uns. Da ging es sehr zur Sache. Ich erinnere mich noch, sogar ein Tor geschossen zu haben“, sagt Mandelkau schmunzelnd. „Aber im Vordergrund stand immer das Sportliche. Der Fußball und nichts anderes.“ Das ist heute etwas anders. Victoria gilt als eher bürgerlicher Verein, Altona 93 als linksalternativ.
Zwischen beiden Fanlagern kam es durchaus auch schon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, auch wenn Profifußball-Dimensionen in diesem Punkt erfreulicherweise nie erreicht wurden. Den Gegensatz bürgerlich versus links will Mandelkau übrigens so nicht stehenlassen. „Auch der SC Victoria steht wie Altona 93 für viele soziale Werte und hält diese hoch. So viele Unterschiede sehe ich da gar nicht“, sagt Mandelkau.
Ex-St.-Pauli Verteidiger Walter Frosch war Clubwirt in der Victoria-Klause
Ein paar Unterschiede entdecken konnte in seiner Spielerlaufbahn dafür Jassi Huremovic. „Ich habe bei beiden Clubs sehr gerne gespielt, will keinem zu nahe treten. Altona 93 fand ich persönlich aber etwas familiärer“, sagt Huremovic im Rückblick.
„Es waren wirklich immer die gleichen Leute bei den Spielen. Das war schon etwas Besonderes. Als wir neulich mit dem ETSV Hamburg an der Adolf-Jäger-Kampfbahn waren, habe ich festgestellt: Bis auf die Zäune hat sich wirklich nichts verändert. Bei Victoria hing damals alles sehr davon ab, welche Leute da waren. Wobei der frühere St.-Pauli-Verteidiger Walter Frosch als Clubwirt im Clubheim Victoria-Klause für großartige Stimmung gesorgt hat. Das Stadion Hoheluft sah damals übrigens noch ganz anders aus.“
Umgerüstet wurde Vickys Stadion nämlich erst nach Huremovics Abgang für die Regionalligaspielzeit 2008/09, in der Altona 93 als Untermieter zum Unwillen vieler eigener Fans an der Hoheluft als Victorias Untermieter spielte. Die Saison wurde zum Desaster für den AFC. Abstiegsplatz plus Lizenzentzug wegen nicht abgeführter Lohnsteuer und Sozialabgaben lautete die bittere Bilanz.
Victoria rüstete die Hoheluft im Auftrag Altonas um - und profitierte selbst davon
Von der regionalliatauglich umgerüsteten Hoheluft profitierte bald darauf der SC Victoria bei seinem Aufstieg in die Regionalliga Nord 2012. Doch nach zwei ernüchternden Spielzeiten transformierte sich Vicky endgültig zum reinen Breitensportverein und gab seinen Traum von der Viertklassigkeit und halbprofessionellem Fußball auf. Einen Traum, den Altona 93 heute noch lebt - und dem der Meistertitel vorausgehen soll, der mit einem Sieg im 139. Aufeinandertreffen zum Greifen nahe wäre.
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Laut Mandelkau wird dies nicht gelingen. „Altona darf gerne aufsteigen, aber ein kämpferisches Victoria holt ein 2:2“, sagt er. Huremovic hält dagegen: „3:1 für Altona – und auch der Aufstieg in die Regionalliga Nord wird klappen.“