Hamburg. Die Leichtathleten eilen von einem Erfolg zum anderen – dahinter steckt ein neues Konzept und ganz viel Leidenschaft.
Die Vorzeichen für 2023 waren nicht sehr vielversprechend. Denn die beiden Vorzeige-Leichtathleten des HSV hat das Verletzungspech erwischt: Owen Ansah (22), Deutscher Meister über 100 und 200 Meter, konnte in dieser Saison gar nicht starten; Lucas Ansah-Peprah (23), Hallenmeister über die 60 Meter, musste ebenfalls lange pausieren und hat deswegen noch nicht wieder die Form der Vorjahre erreicht.
Die Verantwortlichen des Clubs können dennoch eine ausgesprochen positive Zwischenbilanz ziehen: 15 Medaillen haben die HSV-Athleten in diesem Jahr bei Deutschen Meisterschaften gewonnen. 2022 waren es zwar 17 gewesen – dazu muss man aber wissen, dass allein das Duo Ansah/Ansah-Peprah sieben davon geholt hat.
Der HSV ist nach langer Zeit wieder eine Top-Adresse der deutschen Leichtathletik. Eine Auswertung der Top-8-Platzierungen bei den Meisterschaften dieses Jahres ergibt, dass die Hamburger bei den Erwachsenen auf Rang neun der deutschen Clubs liegen, bei der Jugend sogar auf Platz sieben. Und viele Beobachter fragen sich: Wie haben die das gemacht?
HSV-Leichtathleten mit neuem Vorstand
Die Frage geht an Nils Lillie (46), früher unter seinem Geburtsnamen Nils Winter ein Top-Weitspringer (Bestweite: 8,22 Meter) und heute Leistungssport-Koordinator beim HSV.
„Die entscheidende Weichenstellung war im Herbst 2018, als ein neuer Vorstand mit Phillip Plumeyer an der Spitze gewählt wurde, der den Leistungssport wieder stärker in den Fokus rücken wollte“, sagt der gebürtige Buxtehuder, der selbst ein nicht unwichtiger Teil der Antwort ist. Er ist dafür verantwortlich, die personellen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, damit sich die Talente in Hamburg entwickeln können.
Dabei konzentriert sich der HSV auf die Sprint- und Sprungdisziplinen. Der Ruf ist längst so gut, dass Talente aus dem ganzen Norden zum HSV kommen. 31 Athleten sind im Hamburger Landeskader, weitere sieben im Bundeskader des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV). Entsprechend hoch sind das Niveau und die Leistungsdichte. „Die Athleten pushen sich dann gegenseitig, wovon alle profitieren“, sagt Lillie. Dazu braucht es natürlich auch Top-Trainer.
HSV-Vorbilder Ansah und Ansah-Peprah
Einer von ihnen ist Christopher Bickmann, seit 1987 dabei und somit das Urgestein im Team des HSV. „Talente hatten wir selbstverständlich auch früher“, sagt der 54-Jährige. Viele hätten den Club aber schnell verlassen oder sogar ganz mit dem Leistungssport aufgehört. Das sei heute anders. „Was die Trainingsbedingungen betrifft, sind wir top. Da gibt es eigentlich keinen Grund, den Verein zu verlassen.“
Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei die Leichtathletikhalle in Winterhude, also ganz in der Nähe der Jahnkampfbahn am Stadtpark, wo die HSV-Sprinter und Springer ihre Heimat haben. „Damit haben wir auch im Winter perfekte Trainingsmöglichkeiten“, sagt Dominik Ludwig und ergänzt: „Hier sind eigentlich alle Voraussetzungen gegeben, um ein Weltklasse-Athlet zu werden.“
Der 42-Jährige ist Landestrainer beim Verband, betreut aber hauptsächlich HSV-Athleten wie etwa Louise Wieland (23), die für die 4x100-Meter-Staffel bei den Weltmeisterschaften in Budapest (Ungarn/19. bis 27. August) nominiert worden ist. In der Männer-Staffel wird Ansah-Peprah dabei sein – die Norm für einen Einzelstart hat er wegen seines Verletzungspechs nicht geschafft.
HSV-Sprinter trainieren in Mannheim für Olympia 2024
Das soll bei den Olympischen Spielen in Paris im nächsten Jahr ganz anders aussehen. Dann wollen er und (der nicht mit ihm verwandte) Ansah über 100 und/oder 200 Meter und in der Staffel starten. Mit ihren 100-Meter-Bestzeiten von 10,08 und 10,04 Sekunden kein unrealistisches Szenario.
Die beiden trainieren mittlerweile am Bundesstützpunkt in Mannheim bei Bundestrainer Sebastian Bayer. Der früher Weltklasse-Weitspringer, der mit 8,71 Metern noch immer den Hallen-Europarekord hält, hatte seine Trainer-Laufbahn beim HSV gestartet und hier die Top-Talente geformt. Weil Hamburg aber seit 2018 kein Bundesstützpunkt mehr ist, musste Bayer umziehen, um als Bundestrainer zu arbeiten – und die Athleten gleich mit, weil sie bei ihm bleiben wollten.
Dass die beiden Spitzen-Sprinter dennoch weiter beim HSV unter Vertrag stehen, ergibt für den Club durchaus Sinn. So wäre der Sponsorenvertrag mit der Krankenkasse Viactiv ohne die Vorzeige-Athleten kaum zustande gekommen.
„Die ganze Aufmerksamkeit für den Club ist dank der beiden viel größer geworden“, sagt Lillie. Sie seien auch Vorbilder, denen dann junge Athleten nacheifern wollen. Die Investition lohnt sich also. Wie viel Geld die beiden vom HSV bekommen, ist Betriebsgeheimnis, aber die Summe ist im Vergleich zu anderen Sportarten bescheiden – die meisten Regionalliga-Fußballer würden nur müde lächeln.
Ziel von Hürdenläufer Mordi: Olympia-Medaille
Hinter den Sprintstars gibt es mittlerweile eine ganze Reihe hoch veranlagter Nachwuchskräfte. Shootingstar dieser Saison ist der 19-jährige Manuel Mordi, der bei seinem ersten Start bei den „Großen“ gleich deutscher Meister über 110 Meter Hürden wurde. Seine Ziele sind hochgesteckt: Nächstes Jahr will er die Olympia-Qualifikation schaffen, 2028 in Los Angeles um Medaillen mitlaufen.
Sein Coach Bickmann hört es gern, zumal Mordi dem HSV treu bleiben wird. „Er hat jetzt seinen Studienplatz in Hamburg sicher, kann Studium und Training optimal verbinden und bleibt in seinem vertrauten Umfeld“, sagt Bickmann. Solche „Wohlfühlfaktoren“ würden oft unterschätzt, betont er. „Aber nur in einem guten Umfeld außerhalb des rein Sportlichen sind Top-Leistungen möglich.“
Darauf legen sie viel Wert beim HSV. „Wir versuchen darauf zu achten, dass es in den Trainingsgruppen auch in sozialer Hinsicht funktioniert“, sagt Lillie. So entsteht eine Atmosphäre, in der Talente reifen können. So wie Dreispringerin Josie Krone und Hürden-Sprinterin Line Schröder (beide 18), die sich für die U-20-Europameisterschaften qualifizieren konnten. Oder der auch erst 18-jährige Weitspringer Simon Plitzko, der schon eine Bestweite von 7,50 Metern hat.
HSV-Sprinterin Wieland darf zur WM
Dabei ist die Leistungsentwicklung nicht plan- und manchmal auch nicht absehbar. Einige steigern sich kontinuierlich, andere in Schüben; manche haben sehr jung eine steile Entwicklungskurve, andere erst mit Anfang 20. So eine „Spätentwicklerin“ ist WM-Teilnehmerin Louise Wieland, die als Juniorin natürlich gut, aber nicht überragend war.
„Dass sie sich nach ihrer Zeit als U-23-Athletin noch so extrem steigert, war nicht unbedingt zu erwarten“, sagt ihr Trainer Ludwig. Über 200 Meter wurde sie in diesem Jahr deutsche Meisterin in der Halle, über 100 Meter hat sie sich auf 11,33 Sekunden gesteigert und unter den besten deutschen Läuferinnen etabliert.
„In der Leichtathletik geht es im Vergleich zu anderen Sportarten ohnehin eher spät los mit der Leistungsorientierung“, sagt Ludwig. Vor der Pubertät steht die Bewegungsfreude im Mittelpunkt, es gibt auch keine Festlegung auf bestimmte Disziplinen. In den unterschiedlichen Altersstufen werden dann zwei Trainingsgruppen gebildet: eine für Kinder, die an Wettkämpfen teilnehmen wollen, und eine für alle anderen. „Wir wollen den Leistungssport fördern, aber für den Breitensport attraktiv bleiben“, erläutert Nils Lillie.
Etwa 1200 Mitglieder hat die Abteilung und gehört damit zu den größten in Deutschland. Doch es wird immer schwieriger, junge Menschen für die Leichtathletik zu begeistern. „Talente gibt es genug“, sagt Lillie. Aber die Konkurrenz werde immer größer, auch durch die vielen Fun- und Trendsportarten.
Beim HSV läuft es dennoch gut. Zum Erfolgsrezept gehören die enge Zusammenarbeit mit dem Landesverband, Kooperationen mit mehreren Schulen und ein attraktives Vereinsleben – für die Kinder und Jugendlichen werden beispielsweise viele Camps und Ausfahrten organisiert.
Leidenschaft pur: Alle Trainer ehrenamtlich tätig
Das alles ist hoch professionell – Profis in finanzieller Hinsicht gibt es aber keine. Alle rund 60 Trainer, ob sie nun die Kindergruppen betreuen oder die herausragenden Athleten, sind ehrenamtlich tätig. Sie bekommen eine Aufwandsentschädigung, die oft gerade mal für das Benzingeld reicht. Der einzige Hauptamtliche ist Nils Lillie, aber nicht als Trainer (das macht auch er im Ehrenamt), sondern als „Manager“ des Clubs.
Christopher Bickmann ist Unternehmer (Service für Sportveranstaltungen), Dominik Ludwig arbeitet als Sportlehrer bei der Polizei. Sie alle entwickeln spezielle Trainingspläne für ihre Athleten, fahren mit zu Wettkämpfen und bilden sich ständig fort. Man muss schon mehr als nur ein bisschen leichtathletikverrückt sein, um unter diesen Bedingungen Trainer zu sein.
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„Aber das gilt ja auch für die Athleten“, sagt Nils Lillie schmunzelnd. Um in dieser Sportart richtig gut zu werden, brauche man neben Talent viel Geduld und Trainingsfleiß. Gerade in Herbst und Winter, wenn die nächsten Wettkämpfe noch Monate weg sind, steht viel, manchmal auch eintönige Trainingsarbeit an. Dafür braucht man Disziplin. Und Enthusiasmus. Aber daran herrscht wirklich kein Mangel bei den HSV-Leichtathleten.