Hamburg. Die 34-jährige Turnierbotschafterin bewertet für das Abendblatt die Starterfelder der Hamburg European Open am Rothenbaum.
Wäre ihr Leben nicht so randvoll mit anderen Interessen, dann würde Andrea Petkovic vor allem eins tun: Tennis schauen. „Ich liebe meinen Sport, deshalb habe ich mir auch vorgenommen, die letzte Phase meiner Karriere besonders zu genießen“, sagt die 34 Jahre alte Darmstädterin, die bei den Hamburg European Open am Rothenbaum ihre Leidenschaft doppelt gewinnbringend ausleben kann.
Zum einen versucht die Weltranglisten-70., nach dem Finaleinzug im vergangenen Jahr nun den letzten Schritt zum Triumph zu gehen. Zum anderen ist sie als Turnierbotschafterin in der Pflicht, vor allem das Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Tennislandschaft herauszustreichen: Dass Hamburg erstmals seit 1978 wieder Standort eines kombinierten Damen- und Herren-Events ist.
Tennis: „Meine Nummer eins ist Daria Kassatkina"
Weil dieser Fakt den Fans die Gelegenheit bietet, einige der weltbesten Sandplatzkünstler beider Geschlechter zu erleben, bat das Abendblatt die auch als Autorin und Moderatorin erfolgreiche Hessin um eine Einschätzung der Titelkandidatinnen und -kandidaten, aber auch um eine Bewertung der deutschen Profis. Die Auswahl ihrer Turnierfavoritin bringt Überraschendes. „Auch wenn die Estin Anett Kontaveit als Weltranglistenzweite die Setzliste anführt, ist meine Nummer eins die Russin Daria Kassatkina“, sagt sie.
Die 25-Jährige, aktuell Nummer zwölf des Rankings, spiele dank ihres Trainers Carlos Martinez Comet spanisches Sandplatztennis. „Sie war bei den French Open im Halbfinale, spielt eine wahnsinnig konstante Saison.“ Kontaveit (26) sei vor allem auf Hartplatz stark und komme nach einer Corona-Infektion gerade erst wieder in Form. Mit der Tschechin Barbora Krejcikova (26/Nr. 17), die 2021 die French Open gewann, sei auf Sand auch immer zu rechen. „Aber Kassatkina zu schlagen, ist der Maßstab hier.“
„Von der kämpferischen Einstellung ähneln sie sich"
Gleiches gilt bei den Herren für Carlos Alcaraz. Wenig überraschend ist, dass Andrea Petkovic vor allen anderen den spanischen Shootingstar auf dem Zettel hat. „Ich habe ihn noch nie live gesehen, das will ich unbedingt nachholen“, sagt sie. Die Vergleiche, die zwischen dem 19 Jahre alten Weltranglistensechsten und Grand-Slam-Rekordsieger Rafael Nadal (36) gezogen würden, kann die langjährige Fedcupspielerin nicht ganz nachvollziehen.
„Von der kämpferischen Einstellung ähneln sie sich, auch Alcaraz’ Schüchternheit erinnert mich an Rafa. Aber spielerisch ist er ein ganz anderer Typ.“ Tatsächlich liebt Alcaraz neben aggressivem Grundlinienspiel auch die Finesse, er streut mit viel Gefühl Stopps ein und ist auch am Netz extrem angriffslustig und sicher. „Er verkörpert die neue Generation des Herrentennis, die künftig viele zu kopieren versuchen werden“, sagt Petkovic.
Andrej Rubljow zählt zu Titelkandidaten
Dennoch könne das Turnierzugpferd keinen Spaziergang zum Titel erwarten. Titelverteidiger Pablo Carreno Busta (30) möge zwar manchmal etwas langweilig wirken, „weil er gefühlt jeden Punkt gleich spielt, aber er bringt jeden Ball zurück und ist maximal unangenehm zu spielen. Sein Konterspiel erinnert mich manchmal an Angie Kerber“, sagt Petkovic über den Weltranglisten-18. aus Spanien.
Auch der Russe Andrej Rubljow, (24), der 2020 in Hamburg siegte, zähle erneut zu den Titelkandidaten. Der Weltranglistenachte wirke „des Lebens manchmal müde, aber er hat sehr viel Humor“. Sie empfehle jedem, die Chance zu nutzen, Rubljow beim Training zu beobachten. „Es gibt niemanden, der so akribisch daran arbeitet, die Hand so schnell wie möglich zu machen. Wie er mit Vollgas die Bälle mit Spin prügelt, das ist absolut beeindruckend.“
Geheimtipp ist der Niederländer Botic van de Zandschulp
Zwei weitere Spieler im 32er-Hauptfeld der Herren will Petkovic den Hamburger Fans noch ans Herz legen. Der eine ist der Däne Holger Rune, 19 Jahre alt und bereits auf Ranglistenposition 28 vorgestoßen. „Sand ist sein Paradebelag, das hat er mit seinem Turniersieg in München, wo er in der ersten Runde Alexander Zverev ausgeschaltet hat, und dem Viertelfinaleinzug bei den French Open bewiesen. Sein Weltklassestopp könnte auf dem schweren Hamburger Boden eine sehr effektive Waffe sein“, sagt sie. Allerdings sei Rune charakterlich „die Jelena Ostapenko der Herrentour, er verfängt sich manchmal in seiner Emotionalität und steht sich damit selbst im Weg. Aber es ist immer unterhaltsam, ihm zuzusehen.“
Petkovics Geheimtipp ist der Niederländer Botic van de Zandschulp, der 2021 noch auf der Futuretour spielte, sich aber mittlerweile auf Rang 24 der Welt hochgearbeitet hat. „Ich finde Spieler wie ihn unheimlich interessant. Wer es im Alter von 26 Jahren in die Top 30 schafft, ist besonders gefährlich, weil sich dann Erfahrung mit Klasse mischt.“ In München stand van de Zandschulp im Endspiel, musste gegen Rune wegen Verletzung aufgeben. In Paris hatte er das Pech, in Runde drei auf Nadal zu treffen. „Aber er wird länger da oben bleiben, wo er jetzt ist“, sagt Petkovic.
Jan-Lennard Struff erhielt eine Wildcard fürs Hauptfeld
Sollte sie eine Wette auf einen Deutschen platzieren müssen, das Geld würde auf Jan-Lennard Struff gesetzt werden. Der 32 Jahre alte Warsteiner, wegen seines Zehenbruchs auf Rang 126 abgerutscht, erhielt wie Nicola Kuhn (22/Ludwigshafen/Nr. 261) und das Münchner Talent Max Rehberg (18/Nr. 837) eine Wildcard fürs Hauptfeld. „Er hatte in Hamburg oft Lospech, hat aber mit seinem Aufschlag und seinem aggressiven Spiel vieles, um hier weit zu kommen.“ Zwei Achtelfinalteilnahmen sind zu toppen, der Sieg beim Challengerturnier in Braunschweig vor Wochenfrist sollte Rückenwind geben. Das Lospech allerdings blieb Struff auch diesmal treu, er bekommt es zum Auftakt mit dem Olympiazweiten Karen Chatschanow (26/Nr. 27/Russland) zu tun.
Während ein deutscher Sieg im Herrenturnier, das zur 500er-Kategorie (500 Weltranglistenpunkte für den Sieger, dritthöchste Serie nach Grand Slam und Masters) zählt, eine kleine Sensation wäre, sieht Andrea Petkovic im 250er-Event der Damen durchaus eine deutsche Mitfavoritin. Die Dortmunderin Jule Niemeier (22), jüngst in Wimbledon bis ins Viertelfinale vorgedrungen, hatte bereits im vergangenen Jahr in Hamburg auf sich aufmerksam gemacht.
„Mit Nasti habe ich oft trainiert und weiß, was sie kann"
„Damals hatte sie das Pech, dass sie im Halbfinale auf eine sehr gute Gegnerin traf – nämlich mich“, sagt sie mit der ihr eigenen Ironie. „Aber seitdem hat sie noch einmal einen großen Entwicklungsschritt gemacht, so dass ich mit ihr wirklich rechne.“ Die Weltranglisten-109. zeichne neben starkem Aufschlag und enormem Ballgefühl eine beeindruckende Ruhe aus. „Ich sehe in ihr die einzige Spielerin ihrer Generation, die es nach ganz oben schaffen kann.“
Deutlich mehr Hoffnung mache ihr die hinter Niemeier folgende Generation, aus der mit der Hamburgerin Eva Lys (20/Nr. 217) und Nastasja Schunk (18/Leimen/Nr. 146) zwei Spielerinnen per Wildcard im Hauptfeld stehen. „Mit Nasti habe ich oft trainiert und weiß, was sie kann. Eva erinnert mich mit ihren schnellen Schlägen an die junge Sabine Lisicki. Außerdem ist sie eine Rampensau, das kann auch helfen“, sagt sie.
Tennis am Rothenbaum: Petkovic ist eine Rampensau
Rampensau – eine Beschreibung, die auf keine deutsche Spielerin besser passt als auf die Turnierbotschafterin selbst. Was also traut sie sich zu, nachdem das Finale im vergangenen Jahr gegen die Rumänin Elena-Gabriela Ruse (24/Nr. 72), deren erfolgreiche Titelverteidigung keine Überraschung für Petkovic wäre, verloren ging?
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„Ich habe mir vorgenommen, bei jedem Ballwechsel alles zu geben, was noch in mir ist. Wenn mir das gelingt, kann ich hoffentlich ein paar Runden überstehen“, sagt sie vor ihrem Auftaktmatch gegen die Hamburgerin Tamara Korpatsch (27/Nr. 111) an diesem Montag. Und wenn nicht, dann ist sie ja als Botschafterin weiter im Rennen, und das ist gut so. Typen wie sie braucht jedes Turnier.