Hamburg. Nach seiner Flucht aus dem Krieg fand das zwölfjährige Schachtalent Tykhon Cherniaiev an der Eliteschule des Sports eine neue Heimat.
Es gibt einige Momente im Verlauf des Gesprächs, die einem die Sprache verschlagen könnten, wenn es nicht der Beruf erforderte, Fragen zu stellen. Aber als Tykhon Cherniaiev in seiner noch kindlichen Unbefangenheit erzählt, dass er versuche, seinen Vater in den täglichen Telefongesprächen zum Lachen zu bringen, muss man doch kurz innehalten. Ein Zwölfjähriger, der alles tut, um seine gute Laune auf den Vater zu übertragen, der in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, dabei mithilft, die russische Invasion aufzuhalten – das berührt tief.
Gelandet in Hamburg ist der Junge am 8. März, in Begleitung seiner Mutter, Großmutter und der fünf Jahre jüngeren Schwester. Nach einer sechs Tage andauernden, anstrengenden Flucht aus dem Krieg, die er mithilfe seiner Kontakte in alle Welt selbst für die Familie organisiert hatte. Und die in einer Zweizimmerwohnung an der Hamburger Straße endete, weil Tykhon Cherniaiev eine Begabung besitzt, die aus seinen anderen noch einmal hervorsticht.
Schachtalent über Internetstream bekannt
Der Ukrainer ist eins der weltweit größten Schachtalente der Altersklasse U 12, war Blitz- und Schnellschachweltmeister der unter Zehnjährigen – und hat deshalb in Hamburg schon für Interesse gesorgt, bevor Russland seinen Angriffskrieg entfesselte. Rainer Woisin ist Geschäftsführer des Hamburger Unternehmens ChessBase, das Schachsoftware entwickelt und eine Schachdatenbank betreibt. „Wir sind auf Tykhon aufmerksam geworden, weil er seit einigen Jahren einen Internetstream betreibt, und haben schon mehrere kleine Filmprojekte mit ihm gemacht“, sagt er.
Als die Situation in Charkiw Anfang März eskalierte, bot ChessBase dem Toptalent und dessen Familie an, die Dienstwohnung in Hamburg zu nutzen. „Ich wusste nichts über die Stadt, aber bin sehr froh, dass ich hier sein kann“, sagt Tykhon in hervorragendem Englisch, das er sich über Onlinechats mit Schach- und Gamingpartnern in der ganzen Welt beigebracht hat. Die Unterstützung, die er seit seiner Ankunft in Hamburg erhalte, sei „einfach nur großartig“.
Schach-Fan holt Tykhon an Eliteschule
Tatsächlich hat sich ein Netzwerk zusammengefunden, das dem Kriegsflüchtling optimale Entwicklungsmöglichkeiten bieten möchte. Über die Verbindung zwischen Woisin und dem schachbegeisterten Schulleiter Björn Lengwenus hat Tykhon einen Platz in Klasse sechs der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg erhalten.
Dort lernt er erstmals in seinem Leben in Präsenz mit Mitschülern. Wegen seines strikten Trainingsplans hatte er in der Ukraine nur Fernunterricht. „Es war anfangs ungewohnt, aber ich gewöhne mich daran und finde es gut“, sagt er. Weite Teile des Unterrichts übersetzen die Lehrer ihm auf Englisch, dazu erhält er Sprachförderung auf Deutsch.
Nachwuchstalent begeistert Ex-Bundestrainer
Besonders wichtig aber ist die Einbindung des Schachtrainings in die Unterrichtszeit. Sechs Stunden in der Woche übt er mit Ex-Bundestrainer Dorian Rogozenco, der von der Eliteschule zurategezogen wurde, aus Moldau stammt und russisch mit Tykhon spricht, weitere sechs Stunden trainieren sie nachmittags. Dazu kommen täglich einige Stunden am Laptop, die der Hochbegabte, der im Alter von dreieinhalb Jahren von seinem Vater im Schachverein angemeldet wurde, freiwillig absolviert. „Er ist sehr motiviert, macht fast zu viel“, sagt Großmeister Rogozenco.
Darauf, dass Tykhon nicht verheizt werde, werde man besonders achten, sagt Christian Andresen, Sportkoordinator an der Eliteschule, die mit der U-15-Basketballerin Anja Didchuk eine weitere ukrainische Leistungssportlerin aufgenommen hat. „Er ist wirklich ein außergewöhnlicher Typ, der in seiner Klasse sehr gut ankommt und uns alle mit seiner Art begeistert“, sagt er.
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Schachtalent soll in Heimat zurückkehren können
Mitglied im Hamburger SK ist Tykhon bereits, mit dem deutschen Verband ist man über ein Förderprogramm im Gespräch, weitere Sponsoren werden dringend gesucht. Bei der U-12-Team-EM im Sommer könnte er bereits für Deutschland antreten, da im Schach ein Föderationenwechsel möglich ist, ohne Staatsbürger sein zu müssen.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang allen Parteien zu betonen, dass es keinesfalls darum gehe, das Leid der Ukraine zu nutzen und sich ein Supertalent unter den Nagel zu reißen. „Es geht einzig darum, die bestmögliche Förderung zu garantieren“, sagt Rainer Woisin. Alle Seiten wären glücklich, wenn Tykhon Cherniaiev nach Kriegsende in seine Heimat zurückkehren könnte. Bis dahin allerdings wird er weiterhin alles dafür geben, um seinen Traum, „Großmeister und der Beste zu werden“, zu verfolgen – und dem Vater damit ein Lachen zu schenken.