Katar. Mitten in der Wüste wird die Fußball-Nationalelf bei der WM eine Luxusherberge beziehen. Das Abendblatt war vor Ort.
Wer einen besseren Überblick vom hektischen Doha in der Woche der Auslosung zur 22. Fußball-Weltmeisterschaft bekommen möchte, der muss hoch hinaus. Sehr hoch. Im La Vista 55, einer der zahlreichen Wolkenkratzer-Bars von Doha im 55. und 56. Stock des Intercontinental Hotels im Zentrum, bekommt man einen perfekten 360-Grad-Blick über die ganze Stadt und ihre zahlreichen Hochhäuser. Der zäh fließende Verkehr der vollgestopften Omar Al Mukhtar Street, der Hauptverkehrsader der 2,3-Millionen-Einwohner-Metropole, wirkt aus luftiger Höhe wie eine nicht enden wollende Raupe Nimmersatt.
Auch das riesengroße Doha Exhibition Convention Center (DECC), in dem an diesem Donnerstag der 72. Fifa-Kongress stattfindet und wohin am Freitag die Fußballwelt während der WM-Auslosung schaut, erscheint winzig klein. Aus den Boxen dröhnt Hip-Hop- und R&B-Musik – und sogar das Vorurteil, dass man in Katar keinen Alkohol trinken kann, wird über den Wolken widerlegt. Ein mexikanisches Corona-Bier kostet 50 Riyal, umgerechnet 12,50 Euro, eine Flasche Dom Pérignon Brut von 2003 gibt es für schlappe 860 Euro. Das „ganz oben“ muss man sich in Katar nur leisten können.
Flick und Bierhoff hoffen auf gute WM-Lose in Katar
55 Stockwerke weiter unten, auf dem Boden der Tatsachen, hoffen DFB-Manager Oliver Bierhoff und Bundestrainer Hansi Flick, die am Tag vor der Auslosung einfliegen, weniger auf bezahlbare Drinks als viel mehr auf gute Lose im nebenan liegenden DECC. Spätestens um 20 Uhr (deutscher Zeit) werden auch die beiden Ehrengäste aus der DFB-Delegation am Freitag erfahren, was sie sportlich im November und Dezember in Katar erwarten wird.
Nur logistisch sind Bierhoff und Flick – typisch deutsch – schon längst einen Schritt weiter. Zwei Edelhotels wurden geblockt – und der Favorit der Deutschen könnte nicht weiter weg von den Hochhäusern Dohas, den Staus und den Rooftop-Bars sein. „Verehrte Gäste, Ladies and Gentlemen, es ist eine große Ehre für mich, Sie im Zulal Wellness Resort By Chiva Som willkommen zu heißen“, sagt Nasser Matar Al-Kwarti, der Chef der nigelnagelneuen Luxusanlage ganz im Norden Katars, drei Tage vor der Auslosung. 80 geladene VVIP-Gäste (very very important persons) aus der ganzen Welt sitzen auf der Terrasse des Anwesens und lauschen bei der offiziellen Hoteleröffnung den Worten des CEO.
Luxushotel ab 550 Euro pro Nacht
Außer Vogelgezwitscher und den leisen Tönen einer Oud, der traditionellen katarischen Gitarre, und einer Nay, einer orientalischen Flöte, ist nichts zu hören. Zur Begrüßung gibt es zwei Drinks – natürlich alkoholfrei: Secret of rosmary (mit Blaubeeren, Rosmarin, Vanillesirup und Limette) oder Spring Mood Lemonade (mit Ananas, Kamillentee, organischem Honig und Limone). Das im vergangenen November fertiggestellte Luxushotel, das ab dieser Woche offen für Buchungen (ab 550 Euro die Nacht) ist, soll nach Bierhoffs Wünschen das deutsche Campo Bahia mitten in der Wüste werden.
„Die Deutschen?“, fragt Denys gespielt überrascht und zwinkert. „Wirklich?“ Der ukrainische Mitarbeiter der Zulal-Marketingabteilung hält dicht. Solange noch nichts verkündet ist, will am Tag der Hoteleröffnungsfeier niemand offiziell bestätigen, was inoffiziell aber jeder weiß: Hier, knapp anderthalb Auto-stunden nördlich von Doha, irgendwo im Nirgendwo direkt am Persischen Golf, soll die deutsche Nationalmannschaft bei einer passenden Auslosung ihr Quartier aufschlagen. Das Al Shamal Stadium, in dem die DFB-Auswahl trainieren soll, liegt nur wenige Minuten entfernt. Die Notalternative soll Bayern Münchens Wintertrainingslager-Herberge in der Aspire Academy mitten im trubeligen Doha sein.
Luxus-Hotel als "Oase der Ruhe"
„Doha könnte von dieser Oase der Ruhe nicht weiter weg sein“, sagt Denys, der im katarischen Paradies zwischen all den Reichen und Schönen Glück hat, selbst gerade weit weg zu sein. Seine Familie wohne in der Ostukraine, seine Schwester sei nach Berlin geflüchtet. „Die Welt spielt verrückt“, sagt der Ukrainer, der vor fünf Wochen nicht für möglich gehalten hätte, was dann doch passierte: Russlands Angriffskrieg gegen seine Heimat, der den Globus in Atem hält und die bisherige Weltordnung auf den Prüfstand stellt. Wer gestern noch als gut oder zumindest verlässlich galt, ist heute böse. Und umgekehrt.
„Ich bin jetzt hier in Doha am zweiten Tag einer Reise, die irgendwie total merkwürdig ist“, beginnt Robert Habeck sein Twitter-Video, in dem Deutschlands Minister für Wirtschaft und Klimaschutz erklären will, warum er vor wenigen Tagen ausgerechnet im fernen Katar, wo Menschenrechte eine eher untergeordnete Rolle spielen sollen, für eine bessere Welt kämpft. „In der Ukraine sterben die Menschen, und hier seht ihr ja, wie die Skyline aussieht“, sagt Habeck, der am Mittwoch die Gas-Frühwarnstufe ausgerufen und vorletzte Woche Termine mit Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani und Energieminister Saad al-Kaabi hatte. Sein Ziel: kurzfristig die Fördermenge von Gas zu erhöhen, um das russische Gas zu ersetzen und langfristig an einer neuen Partnerschaft mit dem Wüstenemirat zu verhandeln. „Es ist die Ukraine-Krise, die mich hierhergebracht hat.“
Habecks Besuch in Katar schlug hohe Wellen
Trotz der WM-Vorbereitungen hat der Besuch Habecks auch in Katar hohe Wellen geschlagen. „Ich habe natürlich davon in der Zeitung gelesen, und ich kann es gar nicht erwarten, dass wir enger mit Deutschland zusammenarbeiten“, sagt Bodour Al Meer. Die Direktorin für Nachhaltigkeit des WM-Organisationskomitees steht auf dem Rasen des neuen 974-Stadions, auf das die Katari besonders stolz sind.
Der Coup: Die Arena wurde ausschließlich aus wiederverwendbaren Materialien gebaut, darunter 974 Schiffscontainer. Dass die internationale Vorwahl Katars mit +974 beginnt, ist natürlich kein Zufall. „Nach der WM kann das ganze Stadion wieder abgebaut werden und an anderer Stelle in der Welt neu aufgebaut werden“, sagt Al Meer sehr stolz. „Wir wollen weiße Elefanten verhindern.“ In fast jedem Satz der mit einem schwarzen Hidschad verschleierten Frau taucht das Wort „Sustainability“ auf. Nachhaltigkeit.
Nachhaltige Beziehungen zum Mittleren Osten als Ziel
Menschenrechte hin, Menschenrechte her – auf nachhaltige Beziehungen zum neuen Freund im Mittleren Osten hoffen auch Habeck und Co. „Energiepartnerschaften sind Politik. Und wenn sie bei erneuerbaren Energien sind, dann sind sie eher ein Beitrag zur Entspannungspolitik“, sagt der Grünen-Minister, der bei seinem Besuch vergangene Woche auch die fortgeschrittenen WM-Vorbereitungen in der Stadt live miterleben konnte. Es gibt kaum eine Ecke Dohas, wo Besucher nicht daran erinnert werden, welches Großereignis kurz bevorsteht.
„Big Moments are coming“, steht auf einem großen Plakat, wenn man am Flughafen aus dem Flughafen aussteigt. Große Momente stehen bevor. Es gibt Flaggen aller Teilnehmer in der Stadt und überall Fußbälle in den Landesfarben. Die überdimensionale Countdown-Uhr mit bestem Blick auf die Skyline zeigt die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden an, bis der erste Anpfiff dieser WM ertönt. Wenn das deutsche WM-Motto 2006 „Zu Gast bei Freunden“ hieß, dann kann man 2022 vielleicht von „Zu Gast bei neuen Freunden“ sprechen. „So langsam kann es losgehen“, sagt auch Ronald de Boer.
Ronald de Boer ist Botschafter der Katar-WM
Der Niederländer ist in diesen Tagen ein gefragter Gesprächspartner. Vier Jahre lang spielte der frühere Mittelfeldstar in Katar, drei weitere Jahre lebte er mit seiner Familie in Doha. Seit der WM-Vergabe nach Katar ist de Boer offizieller (und gut bezahlter) Botschafter Katars – und füllt seine Rolle ganz nach dem Geschmack der Scheichs aus. Dienstagabend im 14. Stock des Al Bidda Towers im Hauptbüro des Organisationskomitees. Acht Kamerateams aus der ganzen Welt haben ihre Objektive aufgebaut und wollen mit dem früheren Nationalspieler über Katar, die WM und ihre Stars sprechen.
Und de Boer liefert. „Katar?“, fragt er in die erste Kamera. „Katar ist bereit.“ Dann ist das argentinische TV-Team an der Reihe. „Messi ist noch immer einer der besten Spieler der Welt“, sagt de Boer – und lächelt. Nun El Tri. „Mexiko hat immer ein großartiges Team. Mexiko spielt mit Herz, hat tolle Spieler.“ Und wieder lächeln. Der Nächste, bitte: „Kroatien hat ein sehr gutes Team.“ Und so geht es immer weiter. Bis schließlich die deutschen Medien an der Reihe sind. De Boer wird ernst. Der Profi weiß auch, was die Deutschen hören wollen. „Katar ist ein zuverlässiger Gas- und Ölimporteur“, sagt er. Und überhaupt: „Katar hat sich in den vergangenen zehn Jahren extrem entwickelt – die Skyline genauso wie die Lebensumstände der Menschen hier.“
De Boer: Es gibt jetzt einen Mindestlohn
Es gebe jetzt einen Mindestlohn, die Kafala, das viel kritisierte System der Bürgschaft, wurde abgeschafft, die Rechte der Arbeiter gestärkt. „Durch die WM wurde diese positive Entwicklung beschleunigt. Der Emir ist ein Gentleman – er hat nur die besten Intentionen für die Menschen, die hier leben und arbeiten“, sagt de Boer, der ernst bleibt. „Im Westen glaubt man ja, dass die Frauen hier alle vollverschleiert sind und dass man keinen Alkohol trinken kann. Wenn man aber auf seinem goldenen Thron im Westen sitzt, dann denkt man eben, dass das alles wahr ist. Ich habe für sieben Jahre in Katar gewohnt – und ich habe so etwas nie beobachten können.“
Es klingt fast ein wenig wie der berühmt-berüchtigte Franz-Beckenbauer-Spruch: „Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen“, hatte der Kaiser vor neun Jahren gesagt – und darf sich seitdem darüber freuen, in nahezu jeder Katar-Reportage erwähnt zu werden. Der Satz verliert auch deswegen nichts von seiner Aktualität, weil trotz aller Bemühungen gerade erst wieder Menschenrechtsorganisationen dem WM-Gastgeber ein desolates Zeugnis ausgestellt haben. Amnesty International urteilt in seinem Jahresbericht, dass Arbeitsmigranten 2021 trotz staatlicher Reformen „weiterhin von Ausbeutung betroffen“ seien. Und auch Human Rights Watch kritisierte Katar scharf.
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Er habe die neuen Berichte der Menschenrechtsorganisationen noch nicht gelesen, sagt Nasser Al-Khater am Mittwoch. Der Chef der WM 2022, im typisch weißen Dischdascha gekleidet, steht an der Countdown-Uhr und schaut den deutschen Fragesteller mit ernstem Blick an. Im so hektischen Doha ist es für wenige Sekunden still. „Ich muss eine Auslosung vorbereiten“, sagt Al-Khater schließlich. Und verabschiedet sich höflich. „Es ist schließlich noch viel zu tun.“