Hamburg. Vor 50 Jahren stieg Jürgen Blin gegen den größten Boxer in den Ring. Sein Leben hat jedoch noch viel härtere Schläge bereitgehalten.
Da gibt es dieses Foto, Jürgen Blin zeigt es stolz, er hat es akkurat in eins der vielen Alben eingeklebt, die sein Leben dokumentieren. Drei kleine Jungs sind darauf zu sehen, sie lachen, während sie versuchen, ihren Vater in einen Schrank zu sperren. Es ist ein Foto, das berührt, vor allem, wenn man um seine Entstehungsgeschichte weiß. Denn der Mann auf dem Schwarzweißbild, das ist Jürgen Blin, es zeigt ihn kurz vor seiner Abreise in die Schweiz, der gepackte Koffer ist auf der Aufnahme auch zu sehen.
50 Jahre alt ist dieses Bild, und dass seine Söhne Jörg, Knut und Frank ihren Vater wegsperren wollten, muss man verstehen. Schließlich stand Weihnachten vor der Tür, aber der Papa musste verreisen, anstatt mit den Knirpsen unterm Christbaum zu sitzen. Er musste Geld verdienen. 180.000 D-Mark, die höchste Kampfbörse seiner Karriere, standen für den Schwergewichts-Boxprofi auf dem Spiel.
Denn der Mann, dem er am Zweiten Weihnachtstag 1971 im Züricher Hallenstadion im Ring gegenüberstehen sollte, war ja nicht irgendwer. Es war der bekannteste Boxer der Welt. Muhammad Ali, neun Monate zuvor von seinem US-Landsmann Joe Frazier als Weltmeister der Verbände WBC und WBA entthront und nun auf dem Weg zurück an die Spitze, wollte sich gegen den unbekannten Deutschen noch ein leicht verdientes Weihnachtsgeld in Europa abholen.
Jürgen Blin hatte vor Kampf gegen Muhammad Ali „die Hosen voll“
Das zumindest war der Eindruck, unter dem Jürgen Blin in Begleitung seines Promoters Fritz Wiene nach Zürich reiste. Schon als der Schweizer Veranstalter Hansruedi Jaggi ein paar Monate zuvor im Rolls-Royce vor Blins damaligen Haus in Schwarzenbek vorgefahren kam, um den Vertrag unterschreiben zu lassen, war ihm „klar, dass ich zum Verlieren eingekauft wurde. Die hatten keinen Gegner gefunden, nun sollte ich das Opfer sein“, erinnert er sich, als er 50 Jahre später am Wohnzimmertisch seines Hauses in Boberg sitzt.
Es ist eine Doppelhaushälfte mit herrlichem Blick über die Boberger Niederung, und schon im Treppenhaus wird klar, dass der Kampf gegen Ali für den Jungen aus Norddeutschland mehr war als ein Kräftemessen mit dem Größten aller Zeiten. Ein großes Gemälde, das Ali in Kampfpose zeigt, hängt über dem Aufgang ins Obergeschoss, weitere Poster mit dem Konterfei Alis sind im Flur und im Keller zu sehen.
„Natürlich war es für mich ein ganz besonderes Erlebnis, gegen Ali antreten zu können“, sagt Jürgen Blin. Die Familie an Weihnachten allein lassen zu müssen, das sei ihm zwar schon schwergefallen. Aber die Aussicht auf den hohen Verdienst und die Erfahrung, einem Weltstar gegenüberzutreten, habe ihm die Entscheidung abgenommen. Und so verbrachte er den Heiligen Abend 1971 allein auf seinem Zimmer in einem noblen Hotel, gefangen in seinen Gedanken an das, was kommen würde. „Ich habe ja nie einen Gegner abgelehnt, ich habe gegen jeden geboxt, der kam“, sagt er, „aber vor diesem Kampf war ich aufgeregt und hatte die Hosen voll.“
Tatsächlich hat Jürgen Blin, geboren am 24. April 1943 auf Fehmarn, keine Herausforderung gescheut, seit er als 14-Jähriger den Entschluss fasste, sein Elternhaus zu verlassen und zur See zu fahren. Eine Flucht aus der Tyrannei seines alkoholkranken Vaters war das, aus einer Kindheit, in der die einzige Wärme, die er von seinem Erzeuger empfing, die war, wenn ihm nach einer Tracht Prügel wieder einmal die Wangen oder der Hintern brannten. In der er gehänselt wurde, weil er nach den Tieren roch, die er jeden Morgen füttern musste. Und in der er nirgends sesshaft wurde, weil die Familie so oft umziehen musste.
Heute kann Jürgen Blin über die Erinnerung lachen, die er an ein Weihnachten seiner Kindheit hat. Mit seinem Vater war er ein paar Tage vor dem Fest an einem Spielzeugladen vorbeigekommen. Im Schaufenster lagen bunte Metalltrecker, er drückte sich die Nase platt und wünschte sich nichts sehnlicher, als so einen Trecker unterm Weihnachtsbaum zu finden. Am Heiligen Abend drückte ihm der Vater einen Ziegelstein in die Hand. „Das ist ein Trecker“, sagte er. Im besten Fall macht so ein Erlebnis ein Kind hart im Nehmen.
Die Zeit als Schiffsjunge, in der er durch schwerste Stürme von Afrika über den Atlantik nach Kanada und bis an Norwegens Nordküste reiste, prägte ihn, machte ihn mutig. Nach einigen Jahren auf See begann er in Hamburg eine Fleischerlehre, und weil gegenüber seines Ausbildungsbetriebs der Boxclub HBC Heros Training anbot und er seine überschüssige Kraft loswerden wollte, versuchte er es mit dem Faustkampf. 1964, da war er 21, gab er in Köln sein Profidebüt, ein Punktsieg über vier Runden gegen Klaus Krüger. Es folgten 47 weitere Kämpfe, von denen er 30 gewann, zwölf verlor und sechs unentschieden gestaltete, bis er 1973 keine Lust mehr hatte, sich für Geld verhauen zu lassen, und sich stattdessen mit seinem ersten Imbiss am Berliner Tor selbstständig machte. Später betrieb er bis 2012 eine Bierbar im Hauptbahnhof.
1972 war Blin Europameister im Schwergewicht
Jürgen Blins Karriere wäre auch ohne den Kampf gegen Muhammad Ali eine bemerkenswerte gewesen. Immerhin wurde er im Juni 1972, als er in Madrid Lokalmatador Jose Manuel Urtain über die damals noch angesetzte Distanz von 15 Runden auspunktete, Europameister im Schwergewicht. Er lieferte dem Briten Joe Bugner im Mai 1971 in dessen Heimat London ein Duell, das er nur dort nach Mehrheitsentscheid verlieren konnte. Dass er den Kampf gegen Ali rückblickend nicht als den härtesten seiner Karriere einordnet, überrascht deshalb kaum. „Urtain und Bugner waren richtige Brocken, die ein kräftiges Pfund hauten. Und auch Gerhard Zech, gegen den ich viermal geboxt habe, hat mich viel härter getroffen als Ali“, sagt er. Ali jedoch war technisch auf einem Level, das er nicht kannte. „Er schlug viel, er schlug genau, und ich wusste, dass ich da nicht mithalte.“
Versucht hat er es natürlich trotzdem. Drei Runden lang war es ein Schlagabtausch auf Augenhöhe, dann wurde die Überlegenheit des hohen Favoriten von Runde zu Runde erdrückender, bis im siebten Durchgang nach 2:12 Minuten ein Kopfhaken einschlug, der das Ende bedeutete. „Der hat mir kurz die Beine schwach gemacht. Ich bin zwar schon bei drei wieder klar gewesen. Aber ich habe mir gedacht: Wenn ich jetzt weitermache, gehe ich wahrscheinlich schwer k. o., und das war es nicht wert. Also bin ich unten geblieben“, sagt er. Bedauert hat er das nie. „Die meisten haben ja keine sieben Runden mit Ali durchgehalten. Wenn ich anfangs nicht so hohes Tempo gemacht hätte, wäre es vielleicht länger gegangen, aber ich wusste ja, dass ich keine Chance zum Sieg habe. Insofern ist alles gut so, wie es ist.“
Sätze sind das, die typisch sind für den Menschen Jürgen Blin, der sich früh abgewöhnt hat, sein Schicksal zu beklagen. Grund genug hätte er sein gesamtes Leben dazu gehabt, aber die Zeit hatte er nie. Seine Prüfung zum Fleischermeister schloss er kurz vor dem Ali-Kampf ab. Für das Trainingslager, das in einem Hotel in Wellingsbüttel stattfand, musste er unbezahlten Urlaub nehmen. „Ich habe immer nebenbei gearbeitet. Am Tag nach dem Kampf gegen Ali stand ich schon wieder in Hamburg im Laden. Es musste ja immer weitergehen“, sagt er.
Blins Sohn nahm sich das Leben
Auch nach dem schlimmsten Tag seines Lebens. Im Mai 2004 stürzte sich sein Sohn Knut aus dem zwölften Stock einer psychiatrischen Klinik am Bodensee, wo er wegen seiner manisch-depressiven Erkrankung behandelt wurde, in den Tod. Knut hatte das Boxtalent seines Vaters geerbt, war Profi gewesen, aber den Kampf gegen seine Dämonen konnte er nicht gewinnen. „Er wäre ein richtig Guter geworden, aber wir konnten ihm nicht helfen“, sagt Jürgen Blin. Schmerz und Erinnerung sind geblieben, auch wenn die anderen beiden Söhne erfolgreiche Geschäftsleute sind. Frank betreibt in Bispingen den Snow Dome und weitere Freizeiteinrichtungen, Jörg produziert in Wildeshausen Zapfanlagen für Großkunden, die das Bier von unten ins Glas pumpen.
Gebrochen hat ihn auch der härteste Schicksalsschlag nicht. Jürgen Blin war eben nie einer, der auch noch die andere Wange hinhielt, wenn das Schicksal zuschlug, er stand auf und machte weiter. Glück und Unglück, das hat er oft erfahren, liegen ja nah beieinander. Als ihn 2007 ARD-Moderator Waldemar Hartmann in einer Livesendung für tot erklärte, erhielt Jürgen Blin so viele aufmunternde Nachrichten und Interviewanfragen, dass ihm der Trubel fast schon peinlich wurde.
Als er im vergangenen Jahr 1,7 Millionen Euro im Lotto gewann, war er so glücklich, dass er es vielen erzählte. Zu vielen, wie sich herausstellte, denn die 300.000 Euro, die er in bar in einem Safe in seinem Haus aufbewahrte, wurden von Einbrechern gestohlen, die genau wussten, wonach sie suchten. Es gibt Bilder einer Überwachungskamera, einer der Täter ist ermittelt, im kommenden Jahr steht der Prozess an. Das Geld dürfte er dennoch nie wiedersehen. Jürgen Blin schüttelt den Kopf, als er diese Geschichte erzählt, über seine Gutgläubigkeit und die Bosheit mancher Menschen gleichermaßen. „Aber was soll ich mich ärgern, mir geht es doch gut“, sagt er.
Blins Enkel Joscha gab sein Profidebüt vor einer Woche
Und das stimmt, wenn auch nicht uneingeschränkt. Geistig ist der 78-Jährige gut beieinander für sein Alter. Seit knapp vier Jahren hat er, nachdem seine Ehefrau Brigitte an Krebs verstorben war, eine neue Partnerin, Heide Arinka (74), die deutlich jünger wirkt und ihm sichtlich guttut. Nur das Laufen bereitet ihm wegen eines Beckenschiefstands Probleme, es wirkt, als sei er auf Gleitschuhen unterwegs, wenn er sich mit Tänzelschritten durch Haus und Garten schiebt.
Manchmal stürzt er, kürzlich hat er sich beim Joggen zwei Rippen gebrochen, trotzdem läuft er regelmäßig durch die Boberger Niederung oder die 50 Treppenstufen zu seinem Garten hoch und runter. Am Geländer Halt zu suchen, das fiele ihm nicht ein – schon allein deshalb, weil es keines gibt. Er trainiert einen Nachwuchsboxer aus Winsen, der Profi werden will, und er freut sich darüber, dass sein Enkel Joscha (24), Sohn seines Sohnes Frank, am vergangenen Sonnabend im Mittelgewicht sein Profidebüt für das Magdeburger SES-Team gegeben hat. „Er hat das Zeug, was zu erreichen. Aber man muss abwarten, ob er die Härte hat.“
Diese Härte, die seinen Opa stets auszeichnete, im Ring und im Leben, und die sich manchmal auch in Jürgen Blins Aussagen noch Bahn bricht. Es nerve ihn mittlerweile, immer wieder auf den Kampf mit Muhammad Ali angesprochen zu werden, weil er das Gefühl hat, dass seine Karriere nur auf diesen Zweiten Weihnachtstag 1971 reduziert wird. „Ich will nicht nur der Mann sein, der mal gegen Ali kämpfte“, sagt er, und tatsächlich wäre es falsch, würde dieser Eindruck entstehen. Aber es lässt sich eben auch nicht wegdiskutieren, dass ihn die meisten Menschen, die ihn heute noch ansprechen, deshalb erkennen, weil er mit Ali im Ring stand.
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Besondere Souvenirs von diesem Tag vor 50 Jahren hat Jürgen Blin nicht aufbewahrt, keinen Kampfmantel, keine Handschuhe, nichts Greifbares außer die vielen Fotos in seinen Alben und die Filme, die darüber gedreht wurden. Er erinnert sich gern an den respektvollen Umgang, den Ali abseits der Kameras mit ihm pflegte, wenn er sein Großmaul gegen einfühlsame Worte eintauschen durfte, und an die wenigen Treffen, die es nach dem Duell vor 50 Jahren bis zu Alis Tod im Juni 2016 gegeben hat. „Ali war der Größte, weil er als Mensch Größe hatte, nicht nur im Ring“, sagt er.
An diesem Sonntag wird er, wenn die Kinder seiner neuen Partnerin zu Besuch kommen, wahrscheinlich noch einmal in den Erinnerungen kramen müssen, die sich in seinem Kopf verbergen. Damit nichts davon in Vergessenheit gerät, hat er mit dem früheren „Bild“-Boxexperten Wolfgang Weggen seine Memoiren geschrieben, das Buch soll im kommenden Jahr erscheinen. Ansonsten aber wird er versuchen, den Zweiten Weihnachtstag 2021 als normalen Festtag zu genießen. In einen Schrank einsperren muss ihn niemand mehr, um ihn zu Hause zu halten. Aber das würde eh nichts bringen. Jürgen Blin hat schließlich immer einen Ausweg gefunden.