Ratzeburg. Der Hamburger Ruderer startet mit dem deutschen Goldboot an diesem Wochenende bei den Europameisterschaften im polnischen Poznan.
Während die Herbstsonne den Küchensee in ein warmes Licht hüllt, fallen einem viele Dinge ein, die man jetzt lieber täte als zu arbeiten. Aber die vier Männer, die mit ihren Ruderblättern das Wasser durchpflügen, haben für die Schönheit der Inselstadt im Herzogtum Lauenburg keinen Blick. Sie sind auf einer Mission, und auch wenn Karl Schulze (32/Dresden), Hans Gruhne (32/Berlin), Max Appel (24/Magdeburg) und Tim Ole Naske (24/Hamburg) in einer normalen Trainingswoche an der Ratzeburger Ruderakademie rund 150 Kilometer abreißen, kann jeder einzelne davon entscheidend sein. Entsprechend hoch ist ihre Konzentration.
Schulze, Gruhne, Appel und Naske bilden den deutschen Doppelvierer; das Boot, das 2021 in Tokio zum dritten Mal in Folge olympisches Gold gewinnen möchte. Olympia und alle Weltcups wurden für 2020 abgesagt, übrig blieb die EM in Polen. Und so kämpfen die deutschen Ruderer von Freitag (Vorläufe) bis Sonntag (Finale) in Poznan (Posen) immerhin um Medaillen.
„Die EM ist für uns eine Durchgangsstation auf dem Weg zu den Olympischen Spielen“, sagt Marcus Schwarzrock (53). Der leitende Bundestrainer für den männlichen Skullbereich hatte seinem Kader im August drei Wochen Urlaub gestattet, weil die Trainingssteuerung diesen für die Zeit nach Olympia vorgesehen hätte. In der Vorbereitung auf einen Saisonhöhepunkt wäre das in normalen Zeiten undenkbar gewesen. Entsprechend angepasst sind die sportlichen Erwartungen für die kontinentalen Titelkämpfe, zu denen außer Großbritannien immerhin alle europäischen Topnationen antreten.
Im Training haben sie versucht, Belastung zu simulieren
Trotzdem ist das Kräftemessen mit den zehn Konkurrenten, darunter mit den Niederlanden, Polen und Italien die drei Bestplatzierten der WM 2019 in Linz (Österreich), für den Doppelvierer von Bedeutung. Es ist der erste Wettkampf, den die Crew in neuer Besetzung bestreitet. Naske, der in Linz noch an der Seite des Rostockers Stephan Krüger (31) den Doppelzweier für Tokio qualifiziert hatte, ist der neue Schlagmann. Der Jurastudent von der RG Hansa rückte für Timo Piontek (28/Koblenz) ins Aufgebot, ersetzte Gruhne auf Schlag und hat sich, sagt Bundestrainer Schwarzrock, „richtig gut eingefunden.“
Wie schwierig es ist, sich ohne die Möglichkeit, die eigene Leistung in Wettkämpfen zu überprüfen, in einer neuen Besetzung zusammenzufinden, kann Karl Schulze beschreiben. Der Routinier zählte schon bei den Olympiasiegen 2012 in London und 2016 in Rio zum Doppelvierer. Er sagt: „Für den Kopf ist die EM wichtig, weil sie uns die Chance bietet, die im Training erarbeiteten Veränderungen zu überprüfen.“
Sein Gefühl sei, dass man sich in die richtige Richtung bewege. „Aber wissen kann man das erst, wenn man es unter Belastung beweisen muss.“ Im Training haben sie versucht, diese Belastung zu simulieren. „Wir haben interne Relationsrennen mit dem Achter und dem Vierer gemacht“, sagt Schwarzrock, „aber die Anspannung, die ein Wettkampf mit sich bringt, lässt sich dadurch nicht erzeugen.“
Schulze hatte für diesen Herbst sein Karriereende geplant
Schulze hatte für diesen Herbst sein Karriereende geplant, wollte seinen Posten bei der Bundespolizei, die ihn für den Leistungssport freigestellt hat, antreten. Seine Frau ist mit den beiden Töchtern bereits wieder von Hamburg nach Dresden gezogen. „Als Olympia abgesagt wurde, war da schon eine Leere“, gibt er zu. Aber als der neue Termin stand, habe er sich mit der einjährigen Verlängerung schnell arrangiert.
„Und jetzt bin ich voll darauf fokussiert, mit den Jungs den maximalen Erfolg zu schaffen.“ Wer zweimal Olympiagold gewonnen hat, gibt sich nicht mit WM-Platz fünf zufrieden, den das Boot 2019 erreichte. Die Veränderung auf der Position des Schlagmannes habe zu einer sicht- und spürbaren Verbesserung geführt, sagt Schulze. „Individuell sind wir alle stark, aber wir müssen das in Einklang bringen, unseren Rhythmus finden. Das ist ein Lernprozess, der bis Olympia anhalten wird.“
Tim Ole Naske glaubt, dass in dieser Hinsicht die lange Trainingsphase ihr Gutes gehabt haben kann. „Eine neue Bootsbesetzung wird über viele Trainingskilometer eingeschliffen. Wir haben uns Selbstvertrauen erarbeitet und kennen unsere Stärken und Schwächen, ohne dass sie uns von anderen aufgezeigt werden mussten“, sagt er. Die EM sei dennoch ein extrem wichtiger Test.
Vier weitere Hamburger zählen neben Tim Ole Naske zum deutsche EM-Aufgebot: Torben Johannesen (Achter), Eric Magnus Paul (Leichter Doppelvierer), Stephan Riemekasten (Skull-Ersatzmann) und Sylvia Pille-Steppat (Para-Einer).